Ahrensburg. Die Landesvorsitzende der SPD unterzieht die Arbeit der Jamaika-Koalition in Kiel einer Analyse und spricht über die Folgen von Corona.
Auf ihrer Sommertour durch Schleswig-Holstein hat die SPD-Landesvorsitzende Serpil Midyatli Station in der Stormarn-Redaktion des Abendblatts gemacht. Im Interview spricht die 44 Jahre alte Landtagsabgeordnete über die Folgen der Corona-Krise, die Stimmung im Stormarner Mittelstand, eine zum Scheitern verurteilte Kita-Reform und gravierende Defizite in der Bildungspolitik.
Frau Midyatli, die Corona-Pandemie hält das Land und seine Bürger seit Monaten in Atem. Wie hat die Landesregierung die Krise gemanagt?
Serpil Midyatli: Insgesamt gut, das besagen auch die vielen Rückmeldungen. Nicht unerwähnt bleiben sollte aber, dass sich die SPD hier konstruktiv und lösungsorientiert eingebracht hat. Es ist gelungen, Verhältnisse wie in Italien, Spanien und den USA zu verhindern, weil rechtzeitig notwendige Ressourcen im Gesundheitswesen aufgebaut worden sind, wie etwa Intensivbetten und Beatmungsgeräte. Hier gab es ein effizientes Gesamtkonzept, das bestens funktioniert hat. Unter anderem deshalb, weil die Bürger diszipliniert und einsichtig mitgezogen haben. Allerdings bleibt festzustellen, dass die Phase der Lockerungen dann nicht mehr so gut gelaufen ist.
Warum?
Es wurden zu viele Entscheidungen auf Verantwortliche vor Ort abgewälzt. Die Polizei, die Kommunen, die Schulen sind in vielen Fragen im Stich gelassen worden. Hier hätte es zum Teil klarere Umsetzungsvorgaben und mehr Unterstützung durch die Landesregierung geben müssen. Das hat für mich auch etwas mit Führungsqualität zu tun.
Kam es auch deshalb zu Spannungen mit Hamburg, insbesondere mit vielen Ferienhausbesitzern an Nord- und Ostsee?
Hier hätte mehr in den Lebensräumen der Menschen gedacht werden müssen, statt in Landesgrenzen. Gerade das war immer eine Stärke Schleswig-Holsteins, aber nicht in der Corona-Krise. Hamburg ist für viele Schleswig-Holsteiner Arbeitsort und Ziel von Freizeitaktivitäten. Dort wohnen Freunde und Familienangehörige, dort gibt es große Krankenhäuser, die auch die Versorgung der Randhamburger sicherstellen. Wenn dann Jogger und Radfahrer aus der Hansestadt an der Landesgrenze ausgebremst werden und sie nicht mehr zu ihren Wochenenddomizilen dürfen, sind das unnötige Zuspitzungen. Man muss ja schon froh sein, dass am Höltigbaum keine Schlagbäume errichtet worden sind.
Sind die weitgehenden Lockerungen vertretbar, insbesondere hinsichtlich der Urlaubsorte an der See?
Sie sind nach den langen Wochen des Lockdowns absolut notwendig und richtig. Die Menschen sehnen sich nach einem Orts- und Luftwechsel. Urlaub an Schleswig-Holsteins Küsten wird nachgefragt wie lange nicht. Ich glaube, das ist durch die notwendigen Anmeldeformalitäten in Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen auch gut steuerbar. Ich habe auf meiner Tour die Erfahrung gemacht, dass oft nur der erste Strandzugang überfüllt ist. Hundert Meter weiter waren sogar noch Strandkörbe verfügbar. Eine Herausforderung stellen allerdings die Tagestouristen dar. Hier muss sich zeigen, ob die Strand-Ampel funktioniert, damit die wichtigen Abstandsregeln auch wirklich eingehalten werden können.
Branchen wie Gastronomie, Hotellerie und Einzelhandel waren von den Auflagen in besonderem Maße betroffen. Kommen die Lockerungen für sie zu spät?
Das Feriengeschäft ist für viele Hotels, Restaurants und kleine Geschäfte von existenzieller Bedeutung. Klar ist aber auch, dass selbst eine gute Sommersaison die bereits erlittenen Umsatzverluste nicht kompensieren kann. Mehr als eine 100-prozentige Bettenauslastung geht nicht. Man kann aber versuchen, sich über neue Angebote ein neues Publikum zu erarbeiten, das künftig vielleicht weniger auf die Kanaren und Balearen fliegt und stattdessen den Urlaub in Norddeutschland verbringt. Da kann der gute „erste Eindruck“ viel wert sein.
Welche Stimmung haben Sie auf ihrer Tour bei mittelständischen Unternehmen wahrgenommen?
Die Soforthilfen des Bundes und das umfassende Konjunkturprogramm, bei denen Bundesfinanzminister Olaf Scholz einen wahnsinnig guten Job gemacht hat, sorgen in vielen Betrieben für gedämpften Optimismus. Vor allem das Kurzarbeitergeld hat sehr geholfen. Mit dem Konjunkturpaket kommt die schnellere Abschreibung für Investitionen hinzu. Dass sich die SPD dafür stark gemacht hat, ist immer wieder gelobt worden. Je flexibler ein Unternehmen ist, umso besser kommt es durch die Krise. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Jürgen Hass Kunststofftechnik in Oststeinbek, bei der ich zu Gast war. Um ausbleibende Aufträge aus der Luftfahrt- und Autoindustrie zu kompensieren, werden dort jetzt hochwertige Atemschutzmasken hergestellt, die sogar kurz vor der Zertifizierung stehen.
Ist die Globalisierung in der Corona-Krise an Grenzen gestoßen?
Im Hinblick auf Medizintechnik und unverzichtbare Schutzausrüstung auf jeden Fall. Diese Bereiche müssen zwingend nach Europa zurückgeholt werden, das haben diverse Engpässe deutlich gezeigt. Deutschland sollte die EU-Ratspräsidentschaft dazu nutzen, hierzu wichtige Entscheidungen auf den Weg zu bringen. Die Sicherheit und Verlässlichkeit des deutschen Gesundheitssystems wird von vielen Bürgern geschätzt und gelobt. Es zu sichern und weiterzuentwickeln ist eine vordringliche Aufgabe.
Die Kita-Reform ist in Städten und Kommunen nach wie vor hoch umstritten. Hätte die SPD da anders agiert?
Das ganze Paket ist vollkommen unterfinanziert. Ein Kardinalfehler bestand schon darin, eine Summe X in den Raum zu stellen und dann zu sagen, nun seht mal zu, wie ihr das Geld verteilt. Wesentliche Ziele der Reform sind so nicht erreichbar. Viele Eltern werden gar nicht entlastet, wenn die Kommunen die Differenz zwischen den Deckelbeträgen und den Standards vor Ort nicht ausgleichen. Dadurch bleibt zugleich die avisierte Entlastung der Städte und Gemeinden vielerorts weit hinter den Erwartungen zurück. Und eine nachhaltige Qualitätsverbesserung wird es so auch nicht geben. Ganz zu schweigen von einer tatsächlichen Beitragsfreiheit für die Familien, die in etlichen Ländern längst umgesetzt ist. Kurzum: Die Kita-Reform, eines der Leuchtturmprojekte der Jamaika-Koalition, wird krachend scheitern.
Apropos Kinder. Sie haben zuletzt den „Lernsommer.SH 2020“ harsch kritisiert. Ist die aktuelle Bildungspolitik des Landes ein weiteres großes Problemfeld?
Mit Karin Prien hat das Land eine Kultusministerin, die gern mal unabgestimmt vorprescht. Die vorschnelle Absage der Abiturprüfungen, die rasche Rückkehr zum Präsenzunterricht im Klassenverbund noch vor den Ferien und der Lernsommer sind Beispiele dafür. Es ist unglaublich, was Lehrern, Eltern und Schülern da in den vergangenen Wochen zugemutet worden ist. Wenn Entscheidungen, wie mehrfach geschehen, freitags verkündet werden und schon am Montag umgesetzt werden sollen, dann sorgt das nachvollziehbarerweise für Verunsicherung, Stress und Frust. Zudem sind die Schulen mit vielen Fragen der Umsetzbarkeit allein gelassen geworden. Da ist es zu einem verheerenden Vertrauens- und Akzeptanzverlust gekommen, wie ich aus vielen Gesprächen weiß.
Welche Lehren müssen aus Ihrer Sicht gezogen werden?
Um die Defizite aus dem Lockdown aufzuarbeiten, muss dringend die Digitalisierung vorangebracht werden. Etwa über die Ausstattung der Lehrkräfte und Schüler mit digitalen Endgeräten. Ein erster wichtiger Schritt ist mit dem Paket des Bundes gemacht, das einen Zuschuss von 150 Euro pro Gerät vorsieht. Das Land will ebenfalls 150 Euro zusteuern, das ist positiv. Nun muss aber der nächste Schritt folgen, etwa eine Entscheidung über eine einheitliche Hard- und rechtssichere Software, die geltenden Datenschutzbestimmungen entspricht. Diese Entscheidung jeder Schule zu überlassen, kann einfach nicht zielführend sein.
Kann die aktuelle Landesregierung überhaupt irgendwo punkten?
Ich stelle fest, dass viele Wahlversprechen nicht eingelöst werden oder bereits kassiert worden sind: Der Ausbau der A20, der versprochene finanzielle Ausgleich für entfallende Straßenausbausatzungen, die Kita-Reform, die Entzerrung des Abiturs. Überdies fehlen Strategien für wichtige Zukunftsfragen bei der Mobilität, in der Energiepolitik, Stichwort Windkraft, des Umwelt- und Naturschutzes. Hier werden keine Perspektiven aufgezeigt, notwendige Weichenstellungen und damit Riesenchancen verpasst.
Sie haben mehrfach die Arbeit von Bundesfinanzminister Olaf Scholz und das positive Wirken der SPD in der Corona-Krise gelobt. Warum schlägt sich das in aktuellen Wahlumfragen aber nicht nieder?
Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, sonst hätten wir das Ruder längst herumgerissen. Olaf Scholz, Hubertus Heil und Franziska Giffey leisten in der Bundesregierung großartige Arbeit. Vieles wird jedoch mit der Person der Kanzlerin und dadurch mit ihrer Partei verbunden. Angela Merkel kann 2021 aber nicht mehr gewählt werden. Wenn diese neue Situation ins Bewusstsein aller gedrungen ist, geht der Bundestagswahlkampf erst richtig los. Und dann wird auch Bewegung in die Zustimmungswerte der SPD kommen.