Das Besondere statt Massenware: Marion und Jörg Boy handeln in dritter Generation mit Feinkost. Das gibt es so sonst nicht mehr im Norden.

Andere Kinder bauen sich Höhlen. Jörg Boy fand seine bereits fertig vor, im Geschäft seiner Eltern. „Ich war damals drei oder vier Jahre alt, im Kindergartenalter. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich in den tiefen Schubladen unter dem Tresen gesessen habe und die Verkäuferinnen mir Tüten mit jeweils einem Kilo Zucker angereicht haben, die ich dann im Dunkel dort unten verstaut habe“, erzählt Jörg Boy. Es war der quasi spielerische Einstieg in ein Lebenswerk. Er wollte nie etwas anderes werden als Kaufmann – und hat es sich durch seine Prägung wohl auch nicht anders vorstellen können.

Jörg Boy führt seit 25 gemeinsam mit seiner Ehefrau Marion in der dritten Generation ein Geschäft, das in Ahrensburg eine Institution ist und selbst in der benachbarten Großstadt Hamburg seinesgleichen sucht. Delikatessen Boy in der Manhagener Allee 8 gehört zur aussterbenden Spezies der Feinkostgeschäfte, die nicht einfach nur Lebensmittelversorger sind, sondern mit einem individuellen Sortiment, mit hausgemachten Produkten und engagiertem Personal überzeugen. Ein Laden, in dem es mehr um Qualität als um großen Warenumschlag geht und wo die Angestellten sich nicht auf das Einscannen der Preise und Regaleinräumen im Akkord reduzieren lassen.

Dass ein Geschäft wie Delikatessen Boy auch heute noch funktioniert, hat viel mit der Leidenschaft aller Beteiligten zu tun. Und auch damit, dass gelebte Tradition nicht bedeutet, alles wie immer zu machen, sondern sich verändernden Bedingungen anzupassen, ohne bewährte Überzeugungen aufzugeben. Das Ganze funktioniert im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Bauch heraus. Die Boys und ihre Mitarbeiter wissen, was ihre Kunden mögen. „Es gibt bei uns keine strategische Planung für so etwas, wir haben keine Meetings, aber wir sprechen miteinander, es wird gemeinsam probiert und auch auf die Meinung der Mitarbeiter gehört“, sagt Marion Boy. Ihr Mann ergänzt: „Unser Plus ist, dass wir vieles selber produzieren, gute und frische Zutaten verwenden. Und dass unsere Angestellten nett und kompetent sind und deshalb das Sortiment gut verkaufen können.“

1925 wurde die Firma vom Großvater Otto gegründet. Der erste Standort war Reinfeld, Ahrensburg zunächst nur eine Filiale – deutlich kleiner, aber wohl so lukrativ, dass die Familie sich darauf konzentrierte. Das Geschäft startete als Krämerladen mit einem Sortiment, das vor allem aus Grundnahrungsmitteln bestand: Mehl, Zucker, Salz, Milch, Eier, aber es gab auch Käse und Konserven. Die zweite Generation profitierte vom Boom im Wirtschaftswunderland: Jörgs Vater Hans-Ludwig Boy erweiterte den Laden durch Um- und Ausbau. Boy wurde der erste Selbstbedienungsladen nach amerikanischem Vorbild in Ahrensburg. „Das hat die Kunden zuerst völlig irritiert“, erzählt Jörg Boy. Pionierarbeit war auch der Party-Service mit kalten Platten aus eigener Herstellung. „Das war eine Küche mit hausgemachten Salaten, Aufschnitt und Käse, schön dekoriert, die wir ‚Illustrierte Platte‘ genannt haben.“

In den 60er-Jahren hatten die Boys 38 Angestellte

Goldene Jahre, wie sich Jörg Boy erinnert. „Das war die Spitzenzeit. Damals hatten wir 38 Angestellte, heute sind es acht. Die Menschen hatten wieder Geld und wollten sich etwas gönnen. Wir verkauften Luxusprodukte wie Krim-Sekt und Hummer aus der Dose. Oder in einer Woche mal 1000 Flaschen Weinbrand von Chantré. Der kostete 9,95 Mark, heute kriegen sie ihn bei großen Discountern für rund acht Euro. Umschlag und Gewinnspannen sind seit damals deutlich geschrumpft.“

Jörg Boy war in diesen Betrieb wie selbstverständlich hineingewachsen. Mit acht Jahren lief er bereits in einem weißen Kittel durchs Geschäft, den seine Mutter ihm genäht hatte. Mit zwölf arbeitete er nach der Schule – „aber erst, wenn die Hausaufgaben fertig waren!“ – im Laden. 1971 begann er seine Lehre bei Scholz in Volksdorf, zwei Jahre später stieg er ins elterliche Unternehmen ein und brachte einige neue Ideen für die Sortimentsveränderung mit, die er trotz des Generationenkonfliktes in kleinen Schritten umsetzen durfte – sozusagen weg vom Rumtopf, hin zur gut sortierten Weinabteilung.

Modernisierung brachte auch Marion Boy, als Sportartikelfachverkäuferin bei Karstadt in Hamburg-Wandsbek ausgebildet . Sie wusste, wie die Warenwirtschaft effizienter zu betreiben war. Die erste Verbindung zwischen Jörg Boy und seiner jetzigen Ehefrau war übrigens eine kulinarische: Er war für das Büfett verantwortlich, das ihr neuer Arbeitgeber, der benachbarte Sportartikelhersteller, zu seinem Einstand ausrichtete. Kein schlechtes Omen für das Paar.

Seit den 80er-Jahren haben die beiden das Geschäft konsequent verändert – weg von der Massenware, hin zum Besonderen: „Wir hätten sonst gegen die großen Filialisten nicht bestehen können“, sagt Jörg Boy. Seine Frau und er haben eine Marktnische gefunden – doch es ist ein hartes Geschäft. Marion Boy: „Unseren Stundenlohn dürfen wir nicht rechnen.“ Die beiden stehen sechsmal die Woche um 4.30 Uhr auf, und nach einem gemeinsamen Espresso beginnt ein Arbeitstag, der erst um 19.30 Uhr endet. Oft kommt an den Wochenenden noch Party-Service dazu, der auch besondere Wünsche erfüllt. Zum festen Ablauf gehören die Einkäufe bei den, so Jörg Boy, „Händlern unseres Vertrauens“ auf Gemüse- und Fischmarkt sowie Schlachthof in Hamburg.

Ein hartes Leben, aber auch ein erfüllendes. Denn das Ehepaar lebt sein Geschäft. „Wir suchen immer nach neuen Anregungen. Wenn wir essen gehen, zerpflücken wir jedes Gericht“, sagt Marion Boy. Urlaubsreisen ins Elsass, nach Mallorca oder Baden sind stets auch Expeditionen des guten Geschmacks. Voller Freude erzählen die beiden von einer kleinen Brennerei im tiefen Schwarzwald, die einen sensationellen Williamsbirnen-Schnaps in fast handverlesener Menge herstellt. Das Ehepaar konnte die Kleinbrenner überreden, sie zu beliefern. Sie bekommen aber nur, was der Schnaps brennende Bauer ihnen zugesteht. Auf dem Markt am Münster in Freiburg entdeckten sie einen Keksbäcker, der mit nur fünf Sorten einen Mini-Handel betreibt. „Das ist unvergleichlich gutes Backwerk. Der Bäcker hatte kein Interesse, seine Kekse ins weit entfernte Ahrensburg zu schicken. Aber wir haben ihn davon überzeugt, uns exklusiv zu beliefern“, sagt Marion Boy und lächelt.

In diesem Jahr werden die beiden 60 Jahre alt. Anlass, auch über die Zukunft des Geschäfts nachzudenken. Ihre zwei Töchter werden das Geschäft nicht weiterführen. Vermutlich wird die Ära Boy dann enden. „So ein Unternehmen hängt an Personen“, sagt Jörg Boy und fügt ganz unsentimental hinzu. „Alles hat ein Ende, jedes Geschäftsmodell läuft irgendwann aus.“