Weil das Kreissozialamt in Bad Oldesloe den Fall der elfjährigen Friederike anders bewertet als in der Vergangenheit, müsste sie eigentlich ihre Wohngruppe verlassen. Oder den Eltern droht Armut.
Ahrensburg. „Ich bin Vater“, sagt Volker Klein, „und ich habe meiner Tochter versprochen, dass ich alles für sie mache.“ Er ist sich bewusst, dass dies das womöglich teuerste Versprechen seines Lebens gewesen ist, dass es ihn und den Rest der fünfköpfigen Ahrensburger Familie in die Verarmung stürzen kann.
Friederike, die Elfjährige, die ihm das Versprechen abgenommen hat, ist von Geburt an behindert: Sie hat das Downsyndrom, sie ist auch ein bisschen autistisch. „Alles für sie zu machen“ heißt für Volker Klein, seine jüngste Tochter nicht wieder aus der heilpädagogischen Wohngruppe herauszunehmen, in der sie sich so wohl fühlt.
Nüchtern betrachtet müsste er das eigentlich machen, weil die Kosten angeblich seine finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Dieser Meinung jedenfalls sind seit Kurzem die Verantwortlichen im Sozialamt des Kreises Stormarn. Um die Frage, welche Paragrafen in Friederikes Fall einschlägig sind, ist zwischen der Behörde und der Familie Klein ein heftiger Streit entbrannt (wir berichteten).
Das Amt weicht seit Monaten nicht einen Deut von seiner Position ab. Volker Klein: „Die wollen uns auf Hartz IV herunterstufen.“
Ganz so weit ist es noch nicht. Volker Klein, 45, Personaldisponent, und seine Frau Sabine, 39, pharmazeutisch-technische Assistentin, kämpfen. Die Eheleute aus dem Ahrensburger Stadtteil Gartenholz verklagen den Kreis jetzt vor dem Sozialgericht Lübeck, scheuen auch den Gang durch die Instanzen nicht. Und weil die Problematik viele Menschen in einer Situation wie ihrer betrifft, hat das Ganze durchaus das Zeug zum Präzedenzfall.
Eilverfahren beim Sozialgericht und beim Landessozialgericht in Schleswig sind abgewiesen worden. Volker Klein: „Die Richter haben die Eilbedürftigkeit nicht gesehen.“ Und sie hätten gesagt, dass sie das nicht auf die Schnelle entscheiden wollen.
„Hilfe zur Schulbildung“ oder „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“?
Welcher Zweck wird mit Friederikes Aufenthalt in der heilpädagogischen Wohngruppe der Lebenshilfe in Siek verfolgt? Das ist die Frage, um die es vor Gericht gehen dürfte. Ist es eine „Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung“? Oder dient er der „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Gemeinschaft“? Klingt nach Feinheit, doch die Unterschiede sind gravierend.
Die erste Alternative ist ein Ausnahmetatbestand im Sozialgesetzbuch (SGB) XII, der eine Zahlung durch die Eltern lediglich in Höhe ihrer sogenannten häuslichen Ersparnis vorsieht. Das ist der Betrag, den Eltern dadurch sparen, dass ihr Kind nicht mehr zu Hause lebt – im Falle der Kleins etwa 400 Euro im Monat. Den Rest zahlt in so einem Fall das Sozialamt.
Die zweite Alternative ist der Regelfall, der erst mal bedeutet: Eltern beziehungsweise andere Angehörige zahlen grundsätzlich alles selbst. Nur wenn das wie im Falle der Kleins – einem Einkommen von monatlich 4500 Euro brutto stehen 2400 Euro monatlich für den Wohngruppenplatz gegenüber – ihre Möglichkeiten übersteigt, springt das Sozialamt ein. Zu berücksichtigen sei dabei auch das „unter Beachtung von § 90 SGB XII ermittelte verwertbare Vermögen“, das haben Richter des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Az: L8SO215/11BER) in Celle vor vier Jahren in einer Eilentscheidung befunden. Das heißt: Ersparnisse mit Ausnahme eines Freibetrags von knapp 4000 Euro, Bausparverträge, Lebensversicherungen und betriebliche Altersvorsorge müssen aufgezehrt werden. Danach gibt’s Geld auf Hartz-IV-Niveau.
Das ist die finanzielle Perspektive für die Kleins. Eine Perspektive, über die Lebenshilfe-Geschäftsführerin Ursula Johann sagt: „Es ist eine totale Katastrophe, dass Otto-Normalverdiener, die ihr Kind betreuen lassen müssen, plötzlich zur Armut verdammt sind.“ Plötzlich deshalb, weil das Sozialamt bis vor Kurzem ebenso wie Familie Klein von der Alterative „Schulbildung“ ausgegangen ist.
Dann aber haben die Zuständigen im Amt die Eilentscheidung aus Celle entdeckt und sind „wegen dieser veränderten Rechtssprechung in die Überprüfung der Bewilligungsgrundlagen eingestiegen“. Die Celler Richter haben in dem Fall, den die Oldesloer Behörde nun für vergleichbar hält, festgestellt: „Es geht in erster Linie darum, der Antragstellerin die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern oder zu ermöglichen. Ein direkter Bezug zum Schulbesuch besteht nicht.“
Das sieht Volker Klein im Falle seiner Tochter, die die Woldenhorn-Schule in Ahrensburg besucht, vollkommen anders. „Seit sie in der Wohngruppe lebt, ist sie viel ausgeglichener“, sagt er. „Sie ist erstmals bereit, etwas anzunehmen. Sie macht deutliche Entwicklungsschritte.“
Bis zum Ausgang des Verfahrens trägt der Kreis Stormarn die Kosten
Vor zwei Jahren noch habe er sich Sorgen gemacht, was später bloß aus ihr werden solle. Inzwischen könne er sich vorstellen, dass sie als Erwachsene in einer Behindertenwerkstatt zurechtkommen könnte. „Sie ist mit Feuereifer bei der Gartenarbeit. Ich sehe plötzlich eine Perspektive für sie.“
Für die er kämpft, weil er seiner Tochter versprochen hat, alles für sie zu tun. Sollte er am Ende des Rechtsstreits verlieren, wird’s richtig teuer. „Auf jeden Fall sechsstellig.“ Positiv ist, dass der Kreis Stormarn bis zum Ausgang des Verfahrens die Kosten weiter trägt – so wie früher.