Marion Thanisch aus Ahrensburg hat Schmerzen, ihr Mann wählt 112 – und 35 Minuten lang passiert nichts. Statt als Notfall ordnet der Disponent der Rettungsleitstelle den Einsatz als normalen Krankentransport ein.
Ahrensburg. Furchtbare Angst und unerträgliche Schmerzen. Das erinnert Marion Thanisch von ihrer Wartezeit auf den Rettungswagen. Nach einem Notruf soll diese Zeit in Schleswig-Holstein maximal zwölf Minuten dauern. Marion Thanisch aus Ahrensburg sagt, sie habe 35 Minuten gewartet. „Ich habe irgendwann geglaubt, die kommen nicht mehr rechtzeitig“, sagt die 80-Jährige und schaut auf den Teppich in ihrem Wohnzimmer. Immer wieder erzählen Leser unserer Redaktion Erlebnisse dieser Art. Marion Thanisch will ihre teilen. Denn sie und ihr Ehemann sind enttäuscht. Enttäuscht von der Behandlung ihres Falles bei der Rettungsleitstelle in Bad Oldesloe.
Es ist Sonntag, 10. August, am frühen Nachmittag. Marion Thanisch sitzt mit ihrem Mann in der gemeinsamen Innenstadtwohnung. „Plötzlich wurde meine linke Gesichtshälfte taub, und in Intervallen zogen Schmerzen über Wange, Auge und Stirn“, sagt sie. Zeitweise habe sie das Gefühl gehabt, dass ihr Auge platzt, sagt die Rentnerin und nimmt ihr Gesicht in beide Hände. Hilmar Thanisch wählt die 112. Er sei dann in der Warteschleife der Oldesloer Rettungsleitstelle gelandet: „Feuerwehr und Rettungsleitstelle Süd“, so begrüßt ihn eine freundliche Frauenstimme vom Band, „Ihre Verbindung wird gehalten. Bitte legen Sie nicht auf.“
Die Kommunen müssen die Einhaltung der Hilfsfrist überprüfen
Hilmar Thanisch sei zu irritiert über die Bandansage gewesen, um der Anweisung zu folgen. Er legt auf und wählt erneut die 112. „Das war dann exakt um 13.42 Uhr“, sagt er. Die Zeiten hat er sich nachträglich aus dem Einsatzprotokoll der Oldesloer Notrufzentrale geben lassen. „Ich habe dem Mann am Telefon dann unsere Adresse gegeben und die Symptome meiner Frau beschrieben. Dann hat er gesagt, dass ein Rettungswagen bald bei uns sein wird.“ Thanisch glaubt, er habe einen Notruf abgesetzt. Der Disponent sieht das anders, er schickt einen gewöhnlichen Krankentransport.
Ein Unterschied mit Folgen: Statt innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen zwölfminütigen Hilfsfrist mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht zur Wohnung des Ehepaars zu rasen, fährt der nächste verfügbare Rettungswagen ohne Sonderrechte nach Ahrensburg – zügig, aber ohne Hast. Um 14.19 Uhr empfängt Hilmar Thanisch – mittlerweile nervös vor der Tür Ausschau haltend – die Rettungskräfte.
Die zwölfminütige und verbindliche Hilfsfrist legt das Gesetz über die Notfallrettung und den Krankentransport des Landes Schleswig-Holstein, kurz Rettungsdienstgesetz, in Paragraf 7, Absatz 2 fest. Im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen liegt sie bei acht Minuten, in den ländlichen Gegenden Thüringens bei 17 Minuten. Die Hilfsfrist ist die Zeitspanne zwischen dem Notruf und dem Eintreffen der ersten Rettungskräfte. Berücksichtigt werden dabei die Dauer des Gespräches mit dem Mitarbeiter in der Rettungsleitstelle, dem Disponenten, sowie die Zeit, die es dauert, bis die Rettungswagen oder Löschfahrzeuge ausgerückt sind und schließlich beim Patienten oder am Brandort angekommen sind.
Christian Kohl, Sprecher des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung, sagt: „Es ist Aufgabe der kommunalen Aufgabenträger, die Einhaltung der Hilfsfrist regelmäßig zu überwachen.“ In Stormarn ist die Kreisverwaltung für die Rettungsleitstelle zuständig. Genauer gesagt die Leiterin des Fachbereichs Ordnung. Das ist Anja Kühl. Wie berichtet, hatte Kühl in einem Bericht des Abendblattes über personelle Engpässe in der Rettungsleitstelle gesagt, dass diese Hilfsfrist in Stormarn stets eingehalten werden konnte. „Es sind zu keinem Zeitpunkt Menschen zu Schaden gekommen oder Gebäude abgebrannt, die hätten gerettet werden können“, sagte sie.
„Das ist zumindest in einem Fall falsch“, sagt Hilmar Thanisch. „Bei uns wurde die Frist nicht eingehalten, und meine Frau hat dadurch Schaden genommen“, sagt er. Er meint die Schmerzen und die Angst, die Marion Thanisch hatte. 47 Minuten nach dem Anruf fahren die Rettungskräfte die 80-Jährige ins Amalie-Sieveking-Krankenhaus nach Hamburg-Volksdorf. „Ich wurde dann noch ins UKE verlegt“, sagt sie. Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf diagnostizieren die Fachärzte in der Dermatologie einen Herpes Zoster (umgangssprachlich: Gürtelrose) im Gesicht der Frau. Nach acht Tagen wird sie entlassen. Hilmar Thanisch sagt: „Hätte sie aber einen Schlaganfall gehabt, dann wäre es vielleicht zu spät gewesen. Die Symptome waren beängstigend.“ Dass der Disponent den Fall anders beurteilt hat, kann er nicht verstehen. „Das ist doch nicht zum Wohle des Patienten“, sagt Thanisch, der lange im Gesundheitswesen gearbeitet hat.
Anja Kühl verweist bei dem Fall auf den Unterschied zwischen einem Notfall und einem Krankentransport. Der Hintergrund: Die Disponenten in der Rettungsleitstelle sind nicht nur für Notfälle zuständig, bei denen Menschen in akuter Gefahr sind, sie koordinieren auch alle Einsätze der Feuerwehr und die Transporte von Patienten von ihrem Haus oder ihrer Wohnung in Kliniken oder zwischen den Krankenhäusern. Diese Transporte sind laut Kühl enorm wichtig, Priorität haben aber die Notfälle. Den Unterschied zu erkennen, das ist eine der vielen Aufgaben, für die die Männer und Frauen meist nur wenige Sekunden haben.