Zum 50-jährigen Bestehen der Verschwisterung mit Saint-Sébastien-sur-Loire wird in Glinde groß gefeiert. Engagierte Bürger erzählen, wie sie die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehung erlebt haben.
Glinde. Die Garage der Familie Theel an der Glinder Mühlenstraße ist für „die Franzosen“ ein legendärer deutscher Ort. Nun, „die Franzosen“ sind in diesem Fall eher ein ausgewählter Kreis von Bürgern der Stadt Saint-Sébastien-sur-Loire bei Nantes, die sich immer wieder gern an die Theels erinnern. Denn deren Garage war so etwas wie ein Treffpunkt der Austauschschüler aus Glindes französischer Partnerstadt und ihrer deutschen Gastgeber.
„Wir hatten damals kein Jugendzentrum in der Stadt“, erzählt Ingo Theel, 56. „Meine Eltern kamen aber auf die Idee, uns einen leer stehenden Teil ihrer Garage anzubieten, damit wir nicht irgendwo herumhängen müssen.“ Der Raum mit Glasbausteinfenster wurde 1974 hergerichtet und mit Musikanlage, Matratzen, Kühlschrank und Plakaten zur deutsch-französischen Party-Location umfunktioniert.
Ingo Theel hatte ein Jahr zuvor am Jugendaustausch teilgenommen und Saint-Sébastien besucht. „Das war meine erste Auslandsreise. Ich war 16 Jahre alt und konnte kaum Französisch. Ich kam in eine Gastfamilie mit vier Söhnen, die mich wie einen Bruder aufgenommen haben“, sagt er. Diese zwei Wochen waren prägend – sie wurden zum „starken Antrieb“, in der Schule intensiv Französisch zu lernen.
Das Engagement hat sich gelohnt – und es wirkt noch immer. Ingo Theel ist einer der Glinder, die über Jahrzehnte die Städtepartnerschaft mit Leben erfüllen, indem sie enge Kontakte pflegen. Wie gut das funktioniert zeigt sich auch jetzt, wenn Glinde von morgen an das 50-jährige Bestehen seiner Verschwisterung mit Saint-Sébastien feiert. Aus Frankreich reisen ungefähr 60 Gäste an, die meisten werden privat untergebracht. Bei deutschen Freunden wie Sabine und Hansi Walther, Anke und Wolfgang Pohlmann oder eben bei Ingo Theel und seiner Frau Dalia.
Selbstverständlich ist die Gastfreundschaft gegenseitig. Die Ehepaare Walther und Theel zum Beispiel haben das Neujahrsfest 2014 gemeinsam bei Freunden in St.-Sébastien gefeiert. Der Lokalpolitiker Wolfgang Pohlmann engagiert sich seit 1978 für die Städtepartnerschaft und besucht mindestens alle zwei Jahre seine Freunde in Frankreich.
Sie alle haben erlebt, wie aus sportlichen und kulturellen Begegnungen persönliche Beziehungen entstanden. Pohlmann zum Beispiel war aktiv beteiligt an einem Gastspiel des niederdeutschen Theoters ut de Möhl, das seine Sketche auf Französisch aufführte und das Publikum mit „Hamburger Veermaster“ und „Tüdelband“ zum Schunkeln animierte. Er ist beseelt von der Gastfreundschaft der Franzosen: „Es gibt nichts Schöneres, als in einem privaten Weinkeller eine Flasche selbst angebauten Muscadet gemeinsam zu leeren.“ Das wäre dann wohl das Pendant zur Glinder Garage.
Im Zwischenmenschlichen hat sich entwickelt, was sich die Initiatoren von der 1964 begründeten Partnerschaft erhofften. Bürgermeister Marcellin Verbe, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hatte, und Glindes Bürgervorsteher Arthur Christiansen hatten die Verschwisterung der beiden Städte forciert, um alte Ressentiments zu überwinden. Die gelebte Völkerverständigung hat gewirkt. Es wurden sogar zwei deutsch-französische Ehen geschlossen. Dennoch macht sich Wolfgang Pohlmann Sorgen um die Zukunft, denn die Städtepartnerschaft braucht Auffrischung. Er hofft darauf, dass sich Schulen und Sportvereine stärker für den Jugendaustausch engagieren.
Noch aber trägt die Freundschaft. Hansi Walther erzählt von begeisterten SMS aus Frankreich, die nach den WM-Auftritten der deutschen Mannschaft bei ihm eingingen. Er zeigt die Nachricht einer Freundin, die ihre spontane Freude über einen deutschen „Victoire“ noch nicht auf die Mitbürger übertragen konnte: „Ich habe mein Auto gehupt, aber ich war ganz allein.“