Die Zahl der Fälle hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt. Immer häufiger sind Jugendliche betroffen, die in nicht intakten Familien gefährdet sind. Kinderschutzbund ruft zu erhöhter Aufmerksamkeit auf.
Bad Oldesloe. Im Nachbarhaus schreit die kleine Merle. Schon wieder. Erst am Sonnabend hatte sie doch stundenlang gebrüllt. Ist sie einfach nur ein lautes Kind? Oder ist Merle ein Kind in Gefahr? Laut Jugendamt und Kinderschutzbund sind alle Stormarner dazu aufgefordert, die Ohren nicht zu verschließen und genau hinzusehen, wenn es um das Wohl von Kindern geht. Wie wichtig das ist, stellen die aktuellen Zahlen unter Beweis: In 95 Fällen, und damit doppelt so häufig wie noch vor drei Jahren, musste das Jugendamt im Jahr 2013 zu seiner radikalsten Maßnahme greifen und Kinder und Jugendliche aus ihren Familien herausholen.
Die gestiegene Zahl der Inobhutnahmen lässt sich laut Wilhelm Hegermann, dem Fachdienstleiter des Stormarner Jugendamtes, auch darauf zurückführen, dass im vergangenen Jahr vermehrt Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren aus ihrer Familie herausgenommen wurden. Auch auf eigenen Wunsch. „Massive Konflikte im Elternhaus führen dazu. Manchmal müssen die Jugendlichen auch davor geschützt werden, sich selbst etwas anzutun.“ Die Zahlen zeigen: Familiäre Strukturen sind immer häufiger einer Dauerbelastung ausgesetzt, unter der vor allem die Schwächsten, sprich die Jüngsten, leiden.
Wenn Eltern überfordert, gestresst und hilflos sind, geht das in den schlimmsten Fällen mit Vernachlässigung, seelischer und körperlicher Gewalt einher. Die Wegnahme der Kinder gilt als der schwerwiegendste Eingriff des Staates in die durch das Grundgesetz geschützte Familie. „Eine dauerhafte Inobhutnahme und damit die Trennung des Kindes von der Familie ist nicht der Zustand, den wir anstreben“, sagt Wilhelm Hegermann. „Vielmehr ist das die Zeit, die wir nutzen, um möglichst gemeinsam mit allen Beteiligten positive Perspektiven zu entwickeln.“ Bei Widerspruch der Sorgeberechtigten entscheidet innerhalb von 24 Stunden das Familiengericht, ob eine Gefährdungssituation vorliegt und eine Trennung rechtens ist.
Es gibt viele Hilfsangebote für überforderte Eltern
Der Kreislauf von Überforderung der Eltern bis hin zum Leid der Kinder und Jugendlichen darf aus Sicht des Kinderschutzbundes gar nicht erst entstehen. Das sagt Ingo Loeding, der Kreisgeschäftsführer aus Bargteheide. Die Arbeit von vier Familienhebammen, die in Stormarn zurzeit rund 80 Familien betreuen, sei ein gutes Beispiel für frühzeitige Hilfsmaßnahmen. Sie stehen den werdenden Eltern bis zur Geburt ihres Kindes und weit darüber hinaus nicht nur bei gesundheitlichen Fragen zur Seite, sondern unterstützen sie auf partnerschaftlicher und wertschätzender Ebene in allen Bereichen dieser besonderen Lebensphase.
Die Arbeit der Hebammen ist nur eines von vielen Angeboten, die der Kinderschutzbund und andere Träger der Kinder- und Jugendhilfe in Stormarn anbieten. Elternkurse, sozialpädagogische Familienhilfen, Tagesbetreuung, Schultrainings, Vätergesprächskreise, virtuelle und telefonische Beratung gehören dazu. Bei all dem sei wichtig, so Loeding, dass die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme möglichst niedrig ist. In den Kinderhäusern Blauer Elefant, die es in Bad Oldesloe, Bargteheide und Ahrensburg gibt, können sich Kinder, Jugendliche und Eltern völlig unbürokratisch, anonym und vertraulich Hilfe holen. Ingo Loeding sagt: „Eltern haben oft Angst, sich bei Problemen direkt ans Jugendamt zu wenden. Manche kommen auch nicht mit der Behördenstruktur klar. Wer beispielsweise seinen Alltag nicht im Griff hat, kann sich nur schwer an Termine halten.“ Jährlich gehen rund 600 Meldungen einer Kindeswohlgefährdung beim Stormarner Jugendamt ein, die dann von speziell geschulten Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) überprüft werden. „Nicht alle Meldungen sind begründet“, sagt Amtsleiter Wilheim Hegermann. „Mir ist aber ein Anruf zu viel lieber als auch nur einer zu wenig.“
Nachbarn sollten laut Kinderschutzbund aufmerksam sein
Die Menschen seien aufmerksamer geworden, seit Kindesmissbrauch oder gar Kindestötung wie zuletzt im Fall der kleinen Yagmur in Hamburg Schlagzeilen machten. Hegermann: „Trotz dieser Sensibilisierung und obwohl wir in Stormarn von der Politik vorbildlich unterstützt werden und personell bestens aufgestellt sind, werden wir niemals alle Gefährdungen abwenden können.“ Er spricht damit die Familientragödie in Glinde an, bei der im Dezember die vierjährige Celine und ihr zwei Jahre älterer Bruder Elias durch die Hand des Vaters ums Leben kamen (wir berichteten). Hier sei offenbar für niemanden vorher ersichtlich gewesen, in welcher Gefahr die Kinder schwebten. Wilhelm Hegermann: „Wir tun unser Bestmögliches. Aber wir brauchen Hinweise, um agieren zu können.“
Hinhören, hinschauen und bei Bedarf um Hilfe bitten, das empfiehlt auch Ingo Loeding. Im Fall der oben genannten kleinen Merle, die beispielhaft für andere Kinder steht und mit der eine typische Situation geschildert wird, in die jeder von uns geraten kann, rät Ingo Loeding: „Klingeln Sie ruhig mal bei den Nachbarn und fragen Sie nach. Zeigen Sie Interesse und Aufmerksamkeit.“ Provozierende Sätze wie „Schlagen Sie etwa Ihr Kind?“ sollten dabei aber nicht fallen. Das Angebot, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, stundenweise auf das Kind aufzupassen oder einfach nur Gesprächsbereitschaft zu zeigen, helfe viel mehr. „Wir haben im Kreis Stormarn so viele gute Angebote, die Eltern und Kindern das Leben leichter machen. Und entgegen der Meinung vieler, dass Menschen die um Hilfe bitten schwach seien, kann ich nur sagen: Wer sich beim Jugendamt oder bei uns meldet, der ist verantwortungsbewusst und zeigt vor allem ganz viel Stärke.“