Diese Frage muss jetzt das Landgericht in Lübeck beantworten, nach einem tödlichen Streit um Drogen in einer Reinbeker Flüchtlingsunterkunft. Ein Urteil wird am 31. März erwartet.
Lübeck/Reinbek. Er hat aus Habgier gemordet und verdient eine lebenslängliche Strafe – zu diesem Schluss kommt der Anwalt der Hinterblieben als Vertreter der Nebenklage. Die Staatsanwaltschaft dagegen geht davon aus, dass Ali A. seinen Freund im Streit um etliche Kilogramm Drogen erstochen hat und fordert neun Jahre Haft wegen Totschlags. Und der Verteidiger resümiert: Ali A. hat in Notwehr getötet. Er plädiert auf Freispruch.
Neun Verhandlungstage liegen inzwischen hinter den Prozessbeteiligten, die am Ende zu so unterschiedlichen Ansichten gekommen sind. Die I. Große Strafkammer des Lübecker Landgerichts muss jetzt ein Urteil finden. „Dafür möchte sich das Gericht Zeit nehmen“, sagt der Vorsitzende der Kammer, Christian Singelmann, nachdem er dem Angeklagten das letzte Wort erteilt hat. „Ich bedauere, was ich getan habe. Aber ich habe mich nur verteidigt“, sagt der 45 Jahre alte Iraner mit bebender Stimme in seiner Muttersprache. Eine Dolmetscherin übersetzt die Worte.
Doch war es tatsächlich Notwehr? Der Anwalt des Angeklagten, Andreas Mroß, versucht diese Frage insbesondere mit der Beziehung der beiden Männer zu bejahen und spricht dabei von einer Symbiose. Das Opfer Madschid G., ein großer, kräftiger Iraner, etwa 100 Kilogramm schwer, soll dominant und bestimmend gewesen sein. Ali A. ist der schmächtige, devote, den Familienangehörige als Angsthasen beschreiben.
Beide Männer sind schwer drogenabhängig und konsumieren täglich
Dieses Verhältnis zeigte sich auch am 10. Mai vergangenen Jahres. Madschid G., 53, kommt aus Köln nach Reinbek, um seinen Freund zu besuchen. Der Asylbewerber wohnt zu dieser Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft am Mühlenweg. Beide teilen sich ein kleines Zimmer. „G. schläft auf dem Bett, A. auf dem Boden“, so Mroß. Ali A. macht dem Besucher jeden Morgen Frühstück und geht einkaufen. Beide verbindet eine jahrelange Freundschaft. Sie lernten sich Anfang der 90er-Jahre in der Ukraine kennen. Sie verkaufen dort Heroin. Ein Geschäft, das Madschid G. bis zu seinem Tod ausübt. So kommt er auch mit etwa 160 Kilogramm Heroin, 32 Kilogramm Kokain, Opium und diversen Tabletten in die Reinbeker Flüchtlingsunterkunft.
Beide Männer sind schwer drogenabhängig und konsumieren täglich. Am 18. Mai. geht es G. schlecht, er leidet an Lungenkrebs und wird ins Krankenhaus Hamburg-St. Georg gebracht. Eine Mitarbeiterin der Klinik wird später im Prozess aussagen, dass der Kölner sich wie in einem Hotel aufgeführt habe und sehr bestimmend gewesen sei. Auch habe er sich nachts fein angezogen, parfümiert und die Klinik verlassen. „Er dealte mit Drogen“, so Mroß.
Nach fünf Tagen entlässt sich der Iraner selbst aus dem Krankenhaus und kehrt zurück nach Reinbek. Es kommt zum Streit. Denn Madschid G. wiegt die Drogen, die er bei Ali A. deponiert hatte, nach. 45 Kilogramm Heroin und 15 Kilogramm Kokain fehlen. G. beschuldigt Ali A. „Er demütigte meinen Mandanten und schlug auf ihn ein“, so der Verteidiger und fügt hinzu, dass Madschid G. nach dem Konsum von Drogen besonders aggressiv gewesen sei. Dies bestätigten auch Zeugen, die vor dem Landgericht aussagen mussten.
G. fordert exakt 5050 Euro von A. und zwingt ihn, seine Mutter und Schwester im Iran anzurufen, damit sie ihm Geld überweisen.
Je mehr Heroin Madschid G. zu sich genommen habe, desto mehr habe er A. gedroht und ihn verletzt. So wie am Sonntag, 26. Mai: Erneut geht G. mit einem Elektroschocker auf A. los. „Dieser greift zu einem Klappmesser und sticht zu“, sagt Andreas Mroß in seinem Plädoyer. Ali A., der in einem dunkelgrünen Pullover der Justizvollzugsanstalt Lübeck auf der Anklagebank sitzt, beginnt bei diesen Worten zu weinen. Seine Dolmetscherin flüstert ihm die Übersetzung ins Ohr. Der Mann mit dem buschigen, grauen Schnurrbart und den dichten Augenbrauen wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht.
Ali A. wollte die Leichen im Boden der Flüchtlingsunterkunft verstecken
Offenbar schmerzt ihn die Erinnerung an diese Tat. Doch die Staatsanwaltschaft erkennt keine Notwehr. „Wieso hat er dann das Messer hinter dem Rücken versteckt, als G. auf ihn zukam?“, fragt der Ankläger.
Der Anwalt der Familie von Madschid G. geht sogar von Mord aus. Ali A. habe so an die Drogen kommen wollen. Gegen eine Notwehr spreche auch, dass Ali A. die Leiche seines Freundes verschwinden lassen wollte.
Seine erste Idee war: Er legt sie in Köln ab. Denn Madschid G. hatte dort in der Drogenszene viele Feinde. Zeugen berichten, dass er vielen Menschen mit dem Tod gedroht habe und viele vor ihm Angst hatten. Doch der Plan scheitert, weil niemand Ali A. ein Auto leihen möchte. Der Iraner versteckt die Leiche unter mehreren Decken auf dem Bett und schläft weiter auf dem Boden.
Dann kommt A., der jahrelang in einem Steinbruch in Japan gearbeitet hat, auf die Idee, seinen toten Freund im Boden der Flüchtlingsunterkunft verschwinden zu lassen. Er besorgt sich einen Bohrhammer und Meißel und beginnt, ein Loch in den Betonboden zu schlagen. Andere Bewohner des Hauses werden darauf aufmerksam und bemerken auch den beißenden Geruch, der aus dem Zimmer strömt. Sie alarmieren die Polizei, die die Leiche findet.
„A. hat die Leiche verschwinden lassen wollen, weil er Angst vor der Familie des Toten hatte“, sagt Mroß. „Familienmitglieder haben ihm sogar mit dem Tod gedroht, sobald er wieder ein freier Mann ist.“
Mord, Totschlag, oder Notwehr? Zu welcher Erkenntnis die Richter kommen, soll am 31. März in einem Urteil verkündet werden.