Geschichtsaufarbeitung durch eine Ausstellung zum Kurbelwellenwerk im Marcellin-Verbe-Haus
Glinde. Manchmal zeigt sich Größe im Kleinen. Die Ausstellung mit dem unspektakulären Titel „Kurbelwellen aus Glinde. Ein Stück Stadt- und Industriegeschichte“ ist auf den ersten Blick eher unauffällig und nur an drei verlängerten Wochenenden im Festsaal des Marcellin-Verbe-Hauses zu sehen. Doch die Schau ist in zweierlei Hinsicht beispielhaft. Zunächst, weil es um unbequeme Wahrheiten geht. Denn sie dokumentiert, dass das landwirtschaftlich geprägte 544-Einwohner-Dorf Glinde sein rasantes Wachstum in den 30er- und 40er-Jahren der Ansiedlung von kriegswichtiger Industrie verdankt und dass dabei zahlreiche Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zum Einsatz und einige von ihnen zu Tode kamen. Mit der Ausstellung stellt sich die Stadt ein weiteres Mal ihrer Vergangenheit im NS-Staat.
Beispielhaft daran ist auch, dass es zwei Glinder Bürger waren, die in Eigeninitiative und mit Hilfe des Stadtarchivars Carsten Walczok die Geschichte des Kurbelwellenwerks dokumentiert haben – zwei Jahre ehrenamtlicher Arbeit mit Recherchen zum Beispiel im Krupp-Archiv in Essen und in lokalen Sammlungen stecken in dem Projekt.
Glinde war wegen der Nähe zu Hamburg logistisch interessant
Dabei ergänzten sich zwei unterschiedliche Temperamente: Heinz Juhre, 66, bezeichnet sich selbst als Hobby-Heimatforscher. Vor mehr als zwei Jahren kam er in einer anderen Ausstellung mit Gerrit Oswald, 53, ins Gespräch. Der Maschinenbau-Ingenieur interessierte sich für die Historie des Geländes, auf dem er seit 27 Jahren arbeitet, früher bei Jurid, heute für Honeywell. Ihm war aufgefallen, dass zur Geschichte des Werks auf dem Gelände nichts mehr zu finden war. Die beiden beschlossen, sich gemeinsam diesem Teil der Glinder Vergangenheit zu widmen.
Die Ausstellung zeigt, wie der NS-Staat begann, eine schlagkräftige Armee aufzubauen – unter anderem durch neue Rüstungsbetriebe. Glinde erwies sich wegen seiner Nähe zu Hamburg, durch die Anbindung an die Gleise der Südstormarnschen Kreisbahn und zur geplanten Autobahn Berlin-Hamburg als logistisch geeigneter Standort. Deshalb wurden dort 1936 das Heereszeugamt für die X. Armee und das Kurbelwellenwerk gegründet, das als spezialisierter Metallbetrieb vor allem Kurbelwellen für die deutsche Luftwaffe fertigen sollte. Das Unternehmen, das zum Krupp-Konzern gehörte, beschäftigte zeitweilig mehr als 6000 Mitarbeiter. Gut die Hälfte davon waren Zwangsarbeiter aus ganz Europa und Kriegsgefangene vor allem aus Osteuropa, für die ein Lager auf dem Wiesenfeld gebaut wurde. 1945 räumten die Nationalsozialisten das Werk und vernichteten wichtige Dokumente. Die englischen Besatzer demontierten nach Kriegsende eiligst die Anlagen. Die letzten Baracken des Lagers wurden in den 60er-Jahren abgerissen. Die Spuren von Glindes NS-Geschichte waren getilgt.
Juhre und Oswald haben sie wieder sichtbar gemacht. Sie haben vieles durch Dokumente und Fotos belegt und es sogar geschafft, eine Original-Kurbelwelle aus dem Militärhistorischem Museum in Berlin-Gatow zu beschaffen. Außerdem hat Oswald Flugzeugmodelle im Maßstab 1:72 zur Ausstellung beigesteuert, um zu zeigen, wofür die Kurbelwellen verwendet wurden.
Eine lehrreiche Ausstellung für die Schüler vom Gymnasium Glinde, die eine Extra-Führung bekamen. Alle haben viel Neues über ihre Heimat und die Zeit erfahren. „Ich finde sehr gut dargestellt, wie es den Menschen im Lager damals ging“, sagt zum Beispiel Lorena Pries, 16. Heinz Juhre will die Forschungsarbeit fortsetzen: „Jeder soll wissen, wie es gewesen ist und daraus lernen. Man darf seine Vergangenheit nicht verdrängen oder vergessen.“