Zwei Familien — ein Schicksal. Sie kommen aus Syrien, aus einer Welt voller Gewalt, Terror und Krieg. Stormarn ist ihr Fluchtpunkt, hier hoffen sie auf eine bessere Zukunft.
Reinfekd. Spielende Kinder, die lachend durch enge Gassen zwischen Betonblockhäusern laufen. Sie sind glücklich, wirken unbeschwert und frei. So beschreibt Hana M. ihre Heimat Yarmok Camp, ein Stadtteil von Damaskus in Syrien. Es sind Erinnerungen an ihr altes glückliches Leben, von dem heute nichts mehr geblieben ist. Der Bürgerkrieg hat es zerstört. Die 41 Jahre alte Syrerin lebt jetzt mit ihren vier Kindern in einer kleinen notdürftig eingerichteten Container-Wohnung in Reinfeld. Die Wände sind kahl, die Möbel bunt zusammengemischt.
Die Familie sitzt an einem kleinen Holztisch, trinkt schwarzen Tee und erzählt von ihrer langen Reise und der Hoffnung, nie wieder Angst um ihr Leben haben zu müssen.
Es war im April. Etwa 100 Männer, bewaffnet mit Kalaschnikows, stürmen mitten in der Nacht in die Wohnsiedlung, in der die Familie lebt. „Es war 2 Uhr morgens“, erinnert sich Hana M.s Sohn Alaa, 20. Die Männer dringen in die Häuser ein und durchsuchen die Räume nach Waffen. Auch in die Wohnung von Hana M. stürmen sieben von ihnen. Ihre Töchter Bian, 12, und Hala, 11, haben Angst, klammern sich an ihren Vater. Doch die Männer reißen ihn weg, verhaften ihn vor den Augen seiner Kinder. Es ist das letze Mal, dass die Mädchen ihren Vater sehen.
Die Erinnerung ist noch frisch, das Erlebte nicht verarbeitet
Ob er noch lebt, wissen sie nicht. Seit dieser Nacht haben sie nie wieder etwas von ihm gehört. „Ich wusste in diesem Moment, nur wenn wir flüchten, werden wir überleben“, sagt Hana M. Denn zu diesem Zeitpunkt war Yarmok Camp stark umkämpft. „Jeden Tag fielen Bomben auf den Stadtteil. Wenn meine Kinder aus dem Haus gingen, wusste ich nie, ob sie je zurückkommen“, sagt Hana M. „Auch nachts hörten wir immer wieder das dumpfe Geräusch einschlagender Raketen“, sagt Alaa, der gut Englisch spricht. „Ich habe mir die Sprache selbst beigebracht“, so der 20-Jährige, der in der IT-Branche gearbeitet hat. Computer faszinieren ihn. Im Internet und mit Büchern lernte er dafür Englisch. „Ich hoffe, in Deutschland in diesem Bereich eine Ausbildung machen zu können“, sagt Alaa und lächelt – doch die Traurigkeit aus seinen Augen verschwindet dabei nicht.
Die Erinnerungen sind offenbar noch zu frisch, das Erlebte noch nicht verarbeitet. „Es hört sich zwar schrecklich an, aber als mein Mann verhaftet wurde, dachte ich nur, jetzt hat es ihn getroffen. Man stumpft emotional ab“, sagt Hana M., die im Krieg miterlebt hat, wie ihr Cousin auf der Straße ermordet wurde und Freunde starben. „Irgendwann fragt man nicht mehr nach dem Warum“, so die zierliche Frau. Dennoch strahlt sie Stärke aus, sie wirkt modern. Ihr dunkles Haar schimmert rot, Kajal ist akkurat um ihre Augen gezogen. „Ich hatte in Damaskus einen Beauty-Salon“, sagt die Kosmetikerin. Ihr Mann arbeitete als Elektriker. „Wir hatten ein gutes Leben“, so die 41-Jährige, die stolz auf ihr eigenes Auto war. „Das war meine Freiheit. Fiel mir zu Hause die Decke auf den Kopf, fuhr ich einfach los und traf mich mit meinen Freundinnen zum Kaffeetrinken“, sagt Hana M.
Nach dem Überfall verkauft sie ihr Auto, lässt Fotoalben und alle Erinnerungen zurück. Nur mit Rucksäcken flüchtet die Familie drei Tage nach der Stürmung ihres Hauses. Dass ihre Reise nach Deutschland führen wird, ahnt die Familie noch nicht. Wir sind mit dem Bus und mit einem Schiff nach Ägypten gefahren“, so Alaa. Dort will die Familie ein neues Leben beginnen. Doch in dem Land beginnt die zweite Revolution. Arbeitslosigkeit macht sich breit. „Wir als Flüchtlinge hatten keine Chance auf einen Job“, so Alaa, der in seinem Rucksack seinen Laptop mitgenommen hat. In Ägypten lernt die Familie andere Flüchtlinge kennen, die mit derselben Hoffnung nach Ägypten gekommen waren und ebenfalls spüren mussten, dass sie unerwünscht sind. Sie planen, weiter nach Europa zu reisen.
In ihrer Verzweiflung beschließt die Familie, ebenfalls den gefährlichen Weg zu nehmen. Nach nur dreieinhalb Monaten in Ägypten bricht zunächst nur Alaa alleine nach Europa auf und nimmt auf einem kleinen Fischerboot Platz. „Eigentlich ist es für 17 Menschen gebaut, wir saßen mit einhundert in dem Boot“, erinnert sich der junge Mann. Zusammengepfercht mit den anderen Flüchtlingen reist er sieben Tage mit dem Fischerboot Richtung Italien. „Die Wellen schlugen immer wieder ins Boot, Tag und Nacht war nur das weite Meer zu sehen“, sagt Alaa: „Mir war in diesem Moment bewusst, dass viele Menschen die Fahrt zuvor nicht überlebt haben.“ Doch Alaa überlebt, steigt auf einer italienischen Insel von Bord. „Später schlägt er sich bis Berlin durch „Ich bin immer wieder mit Zügen gefahren“, erzählt der sehr dünne zierliche Mann. Dort geht er zur Polizei, um Hilfe zu bekommen. „Doch die schickten mich jeden Tag weg“, sagt Alaa, der als Obdachloser auf der Straße lebte und nachts in einem Park schlief. Erst nach vier Tagen gibt ein Polizist dem 20-Jährigen den Tipp zur Ausländerbehörde zu gehen. Dort bekommt er Hilfe und wird nach Neumünster gebracht. In der schleswig-holsteinischen Erstaufnahme für Flüchtling wartet er auf seine Familie.
Nach der langen Flucht kann die Mutter ihren Sohn wieder in die Arme schließen
Hana M. hat inzwischen ihren Schmuck verkauft, damit sie die teure Fahrt mit dem Fischerboot für sich und ihre Töchter bezahlen kann. Drei Monate nachdem der Sohn aus Ägypten geflüchtet ist, macht auch sie sich auf die Reise. Im November kann sie ihren Sohn endlich wieder in die Arme schließen. Die Familie wurde vor fünf Wochen nach Reinfeld gebracht. „Die Menschen hier sind hilfsbereit. Schüler der Immanuel-Kant-Schule unterrichten die Kinder einmal die Woche. „Mir geht es gut“, kann die elfjährige Hala bereits auf Deutsch sagen.
Chekili Rabia, eine gebürtige Tunesierin und Lehrerin der Schule, kommt regelmäßig vorbei. Sie spricht Arabisch und übersetzt Amtsschreiben und unterhält sich mit Hana M. Reinfelder, die sich innerhalb des Kriminalpräventiven Rates zur Arbeitsgruppe „Asyl in Reinfeld“ zusammengeschlossen haben, besuchen ebenfalls die Familie. Sie bieten ihre Hilfe an. „Wir freuen uns sehr über diese Gastfreundschaft“, sagt die vierfache Mutter, die nun hofft, in Deutschland Asyl zu bekommen. Denn ein Stück Normalität kehrt langsam ein. Sandy, die älteste Tochter, hat erste Freundinnen gefunden. „Die wollen mich auf eine Party mitnehmen“, sagt die 18-Jährige voller Vorfreude. Als sie aus Syrien flüchten musste, war sie gerade dabei, ihr Abitur zu machen. „Ich hoffe es jetzt in Deutschland machen zu können“, sagt Sandy, die Psychologie studieren möchte. Ihre Mutter möchte wieder als Kosmetikerin oder Friseurin arbeiten. Die Hoffnung, ihren Mann wiederzusehen, hat sie verloren.