Bank-Geheimnisse: Wir treffen Stormarner auf ihrer Lieblingsbank und lassen sie erzählen. Heute: Helga Tempel, Ostermarschiererin aus Ahrensburg.
Ahrensburg. Vier Tage Marsch bei Schnee und Regen, dazwischen Übernachtungen in Scheunen und mit etwas Glück eine Suppe. Den ersten Ostermarsch in Deutschland organisierten die Ahrensburgerin Helga Tempel und ihr Mann Konrad. Von Hamburg-Harburg aus liefen sie am 15. April 1960 los bis nach Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide, um gegen die atomare Aufrüstung und für den Frieden zu demonstrieren. Den Truppenübungsplatz wählten sie als Ziel, weil die Engländer dort die Feldrakete "Honest John" testen wollten, für die es nukleare Gefechtsköpfe gab. "Die Atombombe hätte alles vernichtet, was wichtig und wert war", sagt Helga Tempel.
Wer nun vor seinem inneren Auge Menschen mit langen Haaren und zerrissenen Jeans sieht, liegt völlig daneben. Mit Kostüm, Kopftuch und Handtasche ausgestattet, lief Helga Tempel los. "Wir wollten normal und bürgerlich aussehen, um es den Leuten leicht zu machen, sich einzureihen", sagt Helga Tempel, die vergangene Woche ihren achtzigsten Geburtstag feierte. Die harten Bedingungen nahmen die Tempels und ihre Mitstreiter bewusst auf sich. "Das sollte zeigen: 'Leute, es ist uns wirklich ernst'." Fast ein bisschen "wehgetan" hat es Helga Tempel, als die Ostermärsche sich später zu "zwei Stunden-Spaziergängen, an deren Ende es heiße Würstchen gab", entwickelten.
Während des ersten Ostermarsches in Deutschland war Helga Tempel, die später jahrelang als Lehrerin in einer Grundschule in Hamburg-Volksdorf arbeitete, schon im Schuldienst. Ihr Mann führte die Gruppe an und war später Sprecher der Ostermarschbewegung, aber: "Der Ostermarsch war ganz klar unser gemeinsames Ding." Viele Protest-Slogans wie "Unser Nein zur Bombe ist ein Ja zur Demokratie" und "Barbaren werden wir durch barbarische Mittel" stammten meist aus der Feder der Ahrensburgerin.
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Um Leute zusammenzutrommeln, schrieben die Tempels Gruppen von Kriegsdienstverweigerern in verschiedenen Orten an und luden sie zu dem Sternmarsch ein. Auch linke Demonstranten schlossen sich dem Protest an. "Das war nicht immer leicht für die Verantwortlichen. Wenn der Eindruck entstanden wäre, dass einige den Ostermarsch für einseitige politische Interessen nutzen, hätten wir einpacken können", sagt Helga Tempel heute. Trotzdem sei es auch eine große Chance gewesen. "Die Leute wagten sich aus der Deckung. Dazu gehörte damals auch viel Mut." Unterlagen aus dieser Zeit besitzen die Tempels nicht mehr. Akribisch dokumentiert haben sie jedenfalls nichts. "Wir wussten ja nicht, dass aus unserem Ostermarsch einmal so eine große Sache werden würde, die dann sogar die 68er-Bewegung auslöste", sagt Helga Tempel.: "Und auch nicht, dass man darüber einmal Bücher schreiben würde. Wir riefen die Leute einfach dazu auf, ihre Stimme zu erheben."
Nur einige Male liefen die Tempels die kompletten vier Tage lang mit. 1963 wurde ihre erste Tochter geboren. "Danach war erst einmal der Hausbau in Ahrensburg und die Familienplanung an der Reihe", sagt die Pädagogin. 1980 nahm sie ihre Arbeit in der Grundschule wieder auf. "Mir ist es wichtig, verschiedene Aufgabenbereiche zusammen zu bringen und dabei nicht unterzugehen", sagt sie. Zum einen wollte die Ahrensburgerin ihren eigenen Kindern eine Welt schaffen, in der sie gewaltfrei leben können. "Andererseits wollte ich auch meinen Schülern beibringen, dass für den Frieden alle zusammen arbeiten müssen. Wenn es einen Konflikt in der Klasse gab, habe ich die Kinder immer gefragt, was wir als Gruppe für eine Lösung finden können." Besonders wichtig war ihr daher auch die Kindererziehungszeit. "Wir haben unsere beiden Töchter und unseren Sohn ermutigt, sich für ein friedliches menschliches Miteinander zu engagieren", sagt sie. "Unser Ziel war es immer, dass dabei jedes Kind seinen eigenen Weg findet." Das Motto im Tempel'schen Haus: "Anregen und beschützen."
Für das Ahrensburger Ehepaar war der Ostermarsch längst nicht die einzige Aktion, mit der es seine Position verdeutlichte. "Wir haben sehr früh realisiert, dass unser Protest gegen Atomwaffen auch die Frage 'was sonst?' mit sich brachte", sagt Helga Tempel. So habe sie gemeinsam mit Gleichgesinnten die Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion "Die Kurve" gegründet. Der Verein setzt sich für die Friedens- und Anti-Atom-Arbeit ein und kämpft im Wendland gegen das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben. Der Namensursprung ist dagegen weniger spektakulär. "Die Begegnungsstätte liegt in einer Kurve", erklärt Helga Tempel und muss lachen.
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Die ausgebildete Mediatorin war auch bei Mahnwachen bereits 1959 vor der französischen Botschaft dabei. "Wir haben damals gegen die französischen Atomwaffen-Versuche in der Sahara protestiert", sagt sie. Vor den Raketen-Lagern in Mutlangen hat sie bei "Sit-ins" mitgemacht. "Da haben wir uns auch wegtragen lassen", erzählt die 80-Jährige, und macht dabei den Eindruck, dass sie auch heute noch dazu bereit wäre. "An meiner Meinung hat sich grundsätzlich nichts geändert. An gewaltfreien Aktionen wie Menschenketten und ähnlichen Aktionen zum Beispiel im Wendland nehme ich immer noch teil", sagt Helga Tempel.
"Sit-ins", sagt sie, genau wie "Hearings" oder "Early Warning". Das Demonstrations-Vokabular hat Helga Tempel auch auf Englisch verinnerlicht. Das wundert nicht, wenn man erfährt, dass sie zeitweise auch als Korrespondentin für die Londoner "Peace News" schrieb. Helga Tempel berichtete auf Englisch über die Geschehnisse in Deutschland.
Helga Tempel ging auf ein Hamburger Gymnasium. "Als ich Abi gemacht habe, dachte ich wirklich, so etwas wie Aufrüstung oder Wiederbewaffnung würde nicht passieren", sagt sie. "Als wir aber begriffen hatten, was während des Krieges eigentlich gelaufen war und wie es jetzt wieder los ging, war für uns klar, dass wir auf die Straße gehen würden", sagt sie. "Eigentlich hätte jeder das tun müssen."
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Vor allem die letzten Kriegsjahre hat die Ahrensburgerin als "grässlich" in Erinnerung. "Seitdem weiß ich, was Krieg heißen kann. Das gab den Impuls für mein späteres Engagement." Ein zweiter wichtiger Anstoß für ihren lebenslangen Einsatz in der Friedensbewegung war für Helga Tempel, die sich in der Kirche aufgrund zu starrer Strukturen "nie richtig wohlgefühlt" hat, die Mitgliedschaft in der Religiösen Gesellschaft der Freunde, der Quäker, einer Religionsgemeinschaft ohne Dogma. "Die Quäker treten traditionell für Versöhnung und Gleichwertigkeit aller Menschen ein", sagt sie. Ihre eigenen Erinnerungen aus den Kriegsjahren und ihre Erfahrungen bei den Quäkern brachten Helga Tempel zu der Überzeugung: "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus".
Während ihres Pädagogik-Studiums in Hamburg traf Helga Tempel ihren späteren Ehemann. "Konrad und ich haben uns bei der studentischen Jugendarbeit in einem so genannten 'Heim der Offenen Tür' kennengelernt." Konrad Tempel war damals schon Mitglied im Verband für Kriegsdienstverweigerer, auch Helga Tempel trat wenig später ein. Das war Mitte der 50er-Jahre. Vor Prüfungsausschüssen vertraten die Tempels die Kriegsdienstverweigerer, so lange, wie die Behörden es zuließen. "Wir waren damals ein bisschen naiv", gibt Helga Tempel heute zu. "Wir haben geglaubt, wenn nur genug Menschen den Dienst verweigern, gibt es auch keinen Krieg mehr."
Ihr ganzes Leben lang hat Helga Tempel sich an verschiedenen Stellen engagiert. 1988 erhielten sie und ihr Mann für die Friedensinitiative Ahrensburg den Olof-Palme-Preis, eine Auszeichnung der Stormarner SPD. Helga Tempel ist zudem Mitbegründerin des Forums Ziviler Friedensdienst (ZFD), das Menschen zu Friedensfachkräften ausbildet und in Krisenregionen entsendet. Das Programm des ZFD wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördert. In der sogenannten Akademie für zivile Konflikttransformation werden Freiwillige in einem vier Monate dauernden Kursus fit gemacht für die Friedensarbeit. Helga Tempel: "In diesem sehr neuartigen Prozess lernen sie unter anderem, wie es zu Konflikten kommt und wie sie selbst zur Deeskalation beitragen können."
Nach der Ausbildung werden die Friedenshelfer in den Kosovo, nach Nahost oder auf die Philippinen entsandt. "Dort sind sie Ansprechpartner und bringen die Menschen zum Dialog", sagt Helga Tempel. "Wir bringen kein Geld in die Konfliktregionen, dafür aber man- und woman-power." Wichtig ist Helga Tempel hierbei vor allem - wie bei all ihren Projekten - Alternativen zum Militärdienst aufzuzeigen. "Es ist noch ein weiter Weg, aber wir bekommen bereits sehr positives Feedback."
Es vergeht kein Tag, an dem die 80-Jährige nicht in irgendeiner Form für den Verband, dessen Ehrenvorsitzende sie seit 2008 ist, tätig ist. Zudem hält sie Vorträge auf Kongressen, und das nicht nur in Deutschland. "Ich habe schon sehr früh international gearbeitet, das war mir immer wichtig", sagt Helga Tempel. Durch die Quäker wurde sie häufig zu Konferenzen eingeladen, nach Moskau oder auch nach Warschau. Auch wenn sie selbst sagt, die Friedensarbeit habe noch einen langen Weg vor sich, sieht die Ahrensburgerin doch auch Erfolge, die sie und ihre Mitstreiter durch ihren jahrelangen Einsatz zu verzeichnet haben. "Der Kalte Krieg wurde überwunden, die Gefahr eines Atomkrieges ist weitgehend eingedämmt und zumindest in Deutschland konnten wir die atomare Wiederaufrüstung verhindern", resümiert sie. "Vor allem aber haben wir zur politischen Wachsamkeit beigetragen."
Auch wenn zumindest die Ostermärsche längst nicht mehr in der Form existieren, in der Helga Tempel und ihr Mann sie damals nach Deutschland brachten, wollen die Ahrensburger sich auch weiterhin für den Frieden einsetzen. "An Stellen, wo Gewalt das Sagen hat, wollen wir mit gewaltfreien Mitteln und Methoden entgegenwirken."