Der 84 Jahre alte Rentner bekommt Geld vom Sozialamt dazu. Lebensmittel holt er sich oft bei der Barsbütteler Tafel.

Barsbüttel. Horst Schultz hat Grauen Star. Eine Operation würde den Grauschleier vor seinen Augen wahrscheinlich beseitigen - sagt der Arzt. Aber nach der Operation müsste sich der 84 Jahre alte Barsbütteler auf jeden Fall eine neue Brille zulegen. Und die müsste er selbst bezahlen. Was aber, wenn sich zeigen sollte, dass die OP nicht geholfen hat? Schultz hätte viel Geld für etwas ausgegeben, was nutzlos ist. "Mit hellem Licht kann ich ja eigentlich noch ganz gut lesen", sagt er und wischt den Gedanken an eine OP beiseite. Und überhaupt: Woher sollte er das Geld für die Brille bekommen?

Horst Schultz, Jahrgang 1924, war im Krieg, hat sein Leben lang gearbeitet, ist seit 20 Jahren Rentner und muss nun von rund 250 Euro im Monat leben. 250 Euro? Man mag die Zahl nicht recht glauben. Dennoch steht sie nach einer kleinen Rechnung unabweisbar auf dem Papier. Schultz bekommt eine monatliche Rente von 819,93 Euro. Dazu gibt es für ihn eine staatliche Grundsicherung von 82,67 Euro im Monat - weil die Rente eben nicht ausreicht. Von zusammen gut 900 Euro geht die monatliche Miete für seine kleine Zweizimmer-Wohnung ab: 470 Euro mit Nebenkosten. 40 Euro kostet die Haushaltshilfe, die er braucht, seit er sich bei einem Sturz im vergangenen Jahr einen Rückenwirbel gebrochen hat. 35 Euro gehen für eine spezielle Ernährung drauf, die ihm der Arzt verordnet hat. Haftpflicht- und Hausratversicherung kosten 12 Euro. Fürs Telefon bezahlt er rund 17 Euro, für die HVV-Monatskarte 39,60 Euro, für Strom 26 Euro, für die Krankenkasse etwa 8 Euro im Monat. Übrig bleiben rund 250 Euro - für Nahrung, Kleidung, Körperpflege, Freizeit.

Horst Schultz ist ein leicht gebeugt gehender, dennoch großer Mann mit wachen Augen hinter der Brille und mit lebendigen Erinnerungen. "Verdient habe ich ja immer recht ordentlich", sagt er. "Aber die Rücklagen, die ich 1989 hatte, als ich in Rente ging, die sind nun aufgefressen. Jetzt stehe ich nackt da." Aber das ist ein Satz, der so nicht stehen bleiben soll. Horst Schultz will nicht zu schwierig klingen lassen, was nun sein Leben ist. "Ich bin sehr glücklich. Ich bin 84! Wer hätte das gedacht!", sagt er. "Mir geht es gut, vielen Jüngeren geht es schlechter als mir." Sein Gehör ist zum Beispiel vollkommen in Ordnung. Das ist ihm wichtig. Horst Schultz ist Ray-Conniff-Fan. Seine Musiksammlung - Kassetten und Schallplatten - hat er mit Etiketten versehen, die er auf der Schreibmaschine getippt hat. Alphabetisch sortiert, stehen die LPs in der Schrankwand, die gemeinsam mit dem niedrigen Couchtisch und zwei Sesseln das kleine Wohnzimmer beherrscht. Neue CDs? "Hab' ich mir seit Jahren nicht gekauft."

Lieber hört er sich seine alten Radiomitschnitte an. Das begeistert ihn. Er zieht eine Kassette hervor, "Melodie & Rhythmus", eine NDR-Sendung aus den Siebzigern, und schiebt sie in den Rekorder. Die Titelmelodie. "Das klingt auch heute noch gut", findet er - und eine Musikwelt wird lebendig, die sich nahtlos in die Möbelwelt seines Zimmers einfügt.

Horst Schultz kommt nicht mehr oft raus seit der Geschichte mit dem Rückenwirbel. Radfahren ist ihm zu gefährlich, ein Auto hat er längst nicht mehr - nur noch einen Hackenporsche.

Die Zivis von der Sozialstation helfen ihm beim Einkaufen. Donnerstags gehen sie für ihn manchmal zur Barsbütteler Tafel, wo es kostenlos Lebensmittel gibt. Manchmal geht er selbst. Es ist ihm peinlich, das nutzen zu müssen, aber es geht nicht anders. Obst, Brot, Milchprodukte, Aufschnitt: "Mit vollem Herzen gibt man mir die Sachen, ich kann mich nicht beklagen."

Das ist sein Hilfsnetz in dem Ort, in dem er seit 34 Jahren wohnt: die Tafel, die Sozialstation, der Mann vom Sozialamt. "Ich habe es mit lauter gutwilligen Menschen zu tun", sagt er. Sein Arzt gehört auch dazu. Da muss er demnächst wieder hin. Im ersten Quartal hat er sich den Besuch verkniffen. "Kostet ja zehn Euro Praxisgebühr", sagt er.

Gibt es etwas, was er sich jetzt nicht mehr leisten kann, was er vermisst? Schultz schweigt. Reisen vielleicht? "Ich habe keine Reisebedürfnisse mehr, ich bin jahrelang unterwegs gewesen", sagt er. Als Kaufmann hat er viel im Außendienst gearbeitet, war lange für die Wandsbeker Schokoladenfabrik Stockmann auf Achse.

Alkohol trinkt er nicht mehr, Kaffee auch nicht. Wenn er kocht, dann Suppen - Erbsensuppe zum Beispiel. Und gleich eine größere Portion für mehrere Tage. Das spart. Mehr als diese kleinen Dinge bleiben nicht. Aus eigener Kraft kann er seine Situation nicht mehr verbessern. Wenn es nur ginge, würde er arbeiten. "Das ist das, was mich narrisch macht: Ich kann es ja nicht mehr beeinflussen", sagt er. "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in eine solche Lage komme."

Dass er nun von anderen nehmen muss, das tut weh. Dass er immer noch geben kann, das tut gut. Seinen Weihnachtsbaumschmuck hat er neulich einer Familie geschenkt, die er bei der Tafel kennengelernt hat. "Das gab leuchtende Augen", sagt er, "waren auch schöne Sachen."

Die Fotos sind gemacht, das Gespräch ist beendet. Abschied im Flur. Wir plaudern über Schokolade. Schultz verschwindet im Zimmer und kommt mit einer Tafel zurück. Vollmilch mit Daim-Stückchen. Diese kleinen Knusper-Brocken hat eine schwedische Firma erfunden, Horst Schultz hat mal deren Deutschland-Vertretung geleitet. "Für Sie, probieren Sie mal", sagt der Mann, der sich mit Schokolade auskennt. Ich zögere. Kann ich das annehmen? Von jemandem, der mit 250 Euro im Monat auskommen muss? Schultz errät meine Gedanken. Er lächelt - und kommt mir zu Hilfe. "Die Tafel hat nur 49 Cent gekostet, ein Sonderangebot. Guter Preis, oder?" Verdammt guter Preis.