Ahrensburg. Grasmahd ist für den Nachwuchs eine tödliche Gefahr. Ein Verein aus Ahrensburg hilft Landwirten, die Tiere aufzuspüren.

Es sind Bilder, die, einmal gesehen, nicht mehr aus dem Kopf weichen wollen: Im Körper fleischige Wunden, einige Gliedmaßen abgetrennt, liegt das tote Kitz da. Zerstückelt von den scharfen Klingen eines Mähdreschers. Ein Anblick, den Regina Wriggers nur schwer ertragen kann. Zusammen mit weiteren Ehrenamtlern hat die Ahrensburgerin den Verein Rehkitzrettung Stormarn gegründet. Gemeinsam haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, den Tiernachwuchs vor der tödlichen Gefahr zu schützen.

Dieser Tage, in den Wochen zwischen Anfang Mai und Mitte Juni, bringen die Ricken ihren Nachwuchs zur Welt. Zum Schlafen legen sie ihre Kitze anschließend im hohen Gras ab. Doch zu dieser Zeit fahren die Landwirte auch zur ersten Heumahd auf ihre Wiesen. Und die Jungtiere sind den Messern der Mähdrescher schutzlos ausgeliefert. „In den ersten Wochen verfügen die Kitze noch nicht über einen Fluchtinstinkt“, erklärt Wriggers. „Wittern sie Gefahr, kauern sie sich auf dem Boden zusammen.“ Was vor Räubern wie Füchsen und Greifvögeln schützt, ist für die Landwirte ein Problem. Im hohen Gras sind die Tiere kaum zu erkennen.

Drohnen mit Wärmebildkamera helfen dabei, die Kitze aufzuspüren

„Früher hat man versucht, die Rehe mit Flatterband zu vergrämen oder ist vor der Mahd mit Hunden durchs Feld gegangen, um die Kitze aufzuscheuchen“, erzählt Wriggers. Verlässlich seien diese Methoden nicht. Inzwischen liefert die moderne Technik neue Möglichkeiten.

„Drohen mit Wärmebildkamera sind sehr effektiv, um die Kitze aufzuspüren“, sagt die Ahrensburgerin. Zwei davon hat der Verein angeschafft. Landwirte können die Rehkitzretter vor der Mahd alarmieren. „Wir arbeiten eng mit den Bauern zusammen“, sagt Wriggers. Gegründet hat sie den Verein 2020. Die Ahrensburgerin ist selbst Landwirtin, führt mit ihrem Mann Heiko den Barghof mit Ackerbau und Pferdepension in Ahrensfelde und kennt daher das Problem.

Das Gras aus dem Frühjahr ist als Futter für die Kühe besonders nahrhaft

Heute sind die Kitzretter im Ahrensburger Stadtteil Wulfsdorf im Einsatz. Landwirt Simon Lutz, der mir seinem Vater Georg und seiner Schwester Helene das dortige Demeter-Gut betreibt, hat Regina Wriggers um Hilfe gebeten. „Ich habe einmal die Erfahrung gemacht, ein Kitz zu vermähen“, erzählt er. Seitdem fahre er nicht mehr mit dem Mähdrescher aufs Feld, ohne es zuvor absuchen zu lassen.

Landwirt Simon Lutz hat die Rehkitzretter um Hilfe gebeten.
Landwirt Simon Lutz hat die Rehkitzretter um Hilfe gebeten. © HA | Filip Schwen

40 Hektar möchte Simon Lutz heute mähen, das Gras wird getrocknet und dient als Futtervorrat für die Kühe im Winter. „Das Gras ist im Frühjahr besonders nahrhaft, deshalb kann ich nicht viel später mähen“, erklärt er. Regina Wriggers hat zwei Teams zusammengestellt, die sich auf die verschiedenen Felder aufteilen. Dennoch wird es bis in die Nacht dauern, bis alle Flächen abgesucht sind.

Ein Spotter lotst die Retter per Walkie-Talkie zu den Wärmesignalen

„Normalerweise sind wir in den frühen Morgenstunden unterwegs“, sagt die Ahrensburgerin. Doch an diesem Tag sei es morgens zu windig gewesen, weshalb die Retter ihren Einsatz kurzfristig auf den Abend verschoben haben. Simon Lutz hat sich bereiterklärt, mit der Mahd zu warten. Gegen 19 Uhr sind die Wetterbedingungen gut und die Drohne kann fliegen.

Bevor es losgeht, gibt es Instruktionen. Das Team teilt sicht auf. Michael Medag steuert die Drohne, Yvonne Spiegel ist heute als sogenannter Spotter im Einsatz. „Ich sehe mir die Aufnahmen der Wärmebildkamera auf dem Bildschirm an und lotse das Team“, erklärt sie. Regina Wriggers und die restlichen Retter verteilen sich auf der Wiese. Per Walkie-Talkie bekommen sie von Yvonne Spiegel Anweisungen.

Das erste Signal der Drohne ist ein Fehlalarm

Und dann geht es los. Mit einem leisen Surren hebt die Drohne ab. Es dauert nicht lang, bis zum ersten Mal an diesem Abend ein weißer Fleck auf den Aufnahmen zu erkennen ist. „Er zeigt mir eine Wärmesignatur an“, erklärt Spiegel. Michael Medag steuert die Drohne genau über den Punkt. „Wer in der Nähe ist, bitte einmal zur Drohne gehen“, spricht Spiegel in das Walkie-Talkie. „Ich gehe“, sagt Regina Wriggers und bahnt sich einen Weg durch das hüfthohe Gras.

Michael Medag (l.) steuert die Kameradrohne, während Torsten Jungnickel den Landeplatz vorbereitet.
Michael Medag (l.) steuert die Kameradrohne, während Torsten Jungnickel den Landeplatz vorbereitet. © HA | Filip Schwen

An der Stelle angekommen stellt ich heraus: Es war Fehlalarm. „Wir haben hier eine Liegestelle“, spricht Wriggers in das Walkie-Talkie. So nennt das Team eingedrückte Mulden im Gras, in denen mal ein Kitz gelegen hat. Das Jungtier selbst ist in diesem Fall schon einige Zeit weg. „Weil das Gras hier platt gedrückt ist, wärmt sich der Boden auf und für die Kamera ist ein Wärmesignal sichtbar“, erklärt Wriggers. Solche Stellen machen den Kitzrettern immer wieder Probleme.

Die Kitze dürfen nur mit Handschuhen angefasst werden

Es geht weiter. Systematisch bewegt sich die Drohne über die Wiese. Dann, plötzlich, heißt es: Regina, bitte einmal einige Schritte zurückgehen, etwa einen Meter neben dir.“ Die Ahrensburgerin streicht das Gras beiseite. Und tatsächlich: Nur einen Schritt von dort entfernt, wo sie gerade noch gegangen ist, kauert ein Rehkitz im Gras. Ohne die Wärmebildkamera wäre es nicht zu sehen gewesen.

Regina Wriggers rupft ein Büschel Grashalme ab und greift damit vorsichtig nach dem Tier. Es wehrt sich nicht, als die Ahrensburgerin es in den Arm nimmt. „Rehe sind wunderschöne Tiere“, sagt sie. Dieses Kitz sei noch besonders klein, wohl erst wenige Tage alt. „Ganz wichtig ist, das Tier nur mit Handschuhen anzufassen“, sagt sie. Denn wenn das Kitz menschlichen Geruch an sich trage, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass es von der Mutter verstoßen werde.

In Kartons warten die Jungtiere, bis sie nach der Mahd wieder ausgesetzt werden

Wriggers legt das Kitz zusammen mit etwas Gras in einen speziellen, etwa einen Meter mal 50 Zentimeter großen Pappkarton. Im Deckel sind große Luftlöcher ausgestanzt. „Wir stellen es an den Rand der Wiese und nach der Mahd setzen wir das Kitz wieder aus, sodass die Ricke es wiederfindet“, erklärt sie.

Torsten Jungnickel (v. l.) und Yvonne Spiegel führen die Retter per Funk zu den Kitzen, während Michael Medag die Drohne steuert.
Torsten Jungnickel (v. l.) und Yvonne Spiegel führen die Retter per Funk zu den Kitzen, während Michael Medag die Drohne steuert. © HA | Filip Schwen

Der Verein finanziert seine Arbeit fast ausschließlich durch Spenden. Für die Anschaffung der beiden Drohnen – ein Gerät kostet rund 6000 Euro – und der restlichen technischen Ausstattung konnten die Rehkitzretter auf eine Förderung des Bundeslandwirtschaftsministeriums zurückgreifen. Neben den finanziellen Mitteln brauche es vor allem ein großes Team, das die Wiesen absuche, sagt Wriggers. Allein an diesem Abend sind etwa zwei Dutzend Helfer im Einsatz.

Die Rehkitzretter rücken mehr als 30 Mal in einer Saison aus

60 Mitglieder hat der Verein aktuell. Pro Saison rücken die Retter mehr als 30 Mal aus. „Wir könnten noch viel mehr Felder kontrollieren, wenn wir mehr Leute wären“, sagt Wriggers. Dass die Rettungsaktionen sich lohnen, wird an diesem Abend deutlich. Als die Helfer gegen Mitternacht ihre Sachen zusammenpacken, haben sie zehn Kitze vor dem sicheren Tod gerettet. Der Landwirt Simon Lutz kann nun guten Gewissens mähen. Regina Wriggers ist zufrieden, sagt: „Es ist jedes Mal wieder ein seltsames Gefühl, sich vorzustellen, dass diese Kitze sonst tot gewesen wären.“

Wer den Verein unterstützen möchte, kann spenden an DE06 2135 2240 0179 2452 79, BIC: NOLADE21HOL. Mehr Informationen unter www.rehkitzrettung-stormarn.de