Westerland/Sylt. Zahlreiche Megamarschierer wagten sich am Wochenende auf die 100-Kilometer-Strecke rund um die Nordseeinsel Sylt.

Die Idee ist ziemlich bescheuert – und wird immer beliebter. Beim Megamarsch laufen und laufen und laufen Menschen ohne Pause, durch die Nacht, durch den Regen, bis zu 100 Kilometer am Stück oder zumindest so weit die Füße tragen. Darunter sind Extremsportler und Gelegenheitsläufer, Alte wie Junge, die aber eines vereint: Sie sind Mentalitätsmenschen. Auf 100 Kilometern Wegstrecke muss man innere Schweinhunde im Rudel überwinden, den Kopf und das Schmerzgefühl an Füßen, in den Knien und Hüften vergessen und einfach weiterlaufen.

Auf der Insel Sylt ging am Wochenende die Königin unter den Megamärschen an den Start. Hier sind die Witterungsbedingungen besonders extrem, hier gilt es, vom Roten Kliff bis zum Klappholttal mehrere Kilometer durch den Sand zu laufen – der wohl längste und anstrengendste Strandspaziergang der Welt. Eine Art Iron-Wandersman.

Sylt gilt als besondere Herausforderung in der Megamarsch-Szene

„Sylt ist ein besonderer Megamarsch, für den man sich qualifizieren muss“, erzählt der Initiator Marco Kamischke. „Da sind die Mega-Megamarschierer am Start“. Anstrengend sei nicht nur der Sand, sondern vor allem das Wetter. „Beim ersten Sylter Megamarsch mit 333 Teilnehmern liefen wir bei sechs Grad unter Null, da war alles gefroren. Und 2019 mussten wir mit 555 Wanderern neun Windstärken und Dauerregen trotzen. Trotzdem kamen mehr als die Hälfte ins Ziel“, sagt Kamischke, der selbst auf Sylt immer mitwandert.

Top motiviert: Die Teilnehmer des Megamarsches auf Sylt vor dem Start.
Top motiviert: Die Teilnehmer des Megamarsches auf Sylt vor dem Start. © Matthias Iken

Der Megamarsch auf der Insel sei wie ein Klassentreffen der Megamarschierer, von denen einige sogar 20 im Jahr zurücklegen. Die Finisher-Quote sei auf der Insel höher, weil hier erfahrene Megamarschierer unterwegs sind. „Bei den anderen Märschen gibt es auch viele, die sich einfach mal ausprobieren wollen und vor dem Ziel aussteigen.“

Die letzten Marschierer kamen nach 24 Stunden ins Ziel

Die Sylter Wanderer wissen, was sie erwartet. In diesem Jahr hatten sich 666 Sportler angemeldet, 551 wagen sich auf die Strecke. Sie starten bei strahlendem Sonnenschein an der Konzertmuschel in Westerland und gehen zunächst nach Norden, dem Strand entlang oder in den Dünen, dann über Asphalt bis zur ersten Versorgungsstation nach gut 23 Kilometern in der Kurverwaltung von List. Hier gibt es Nüsse, Energydrinks, Bananen, Brote.

Danach kann man sich in Keitum, Morsum, Rantum und Hörnum stärken. Noch vor dem Morgengrauen erreichen die ersten der insgesamt 388 Finisher nach 101 Kilometer den Ausgangspunkt, die letzten trudeln gegen Mittag ein.

Unter den erfolgreichen 70 Prozent waren auch Svenja Meier aus Hamburg und Mandy Druwe aus Stralsund. „Wir sind beim Nachtmarsch in Hamburg auf die Idee gekommen, uns auch an die 100 Kilometer zu wagen. Danach saßen wir beim Burger und ich habe mich sofort angemeldet“, sagt Meier. „Meine Einstiegsdroge war der 100-Kilometer-Lauf 2018 in Hamburg“, erzählt die Altenpflegerin. „Als Training bin ich jede Strecke gelaufen, die sich zu Fuß zurücklegen lässt, auch mal 30 oder 40 Kilometer am Stück.“ Die härteste Phase komme zwischen 70 und 80 Kilometern, sagt ihre Freundin Mandy. „Wenn man die 80 Kilometer geschafft hat, sind es nur noch vier Stunden. Dann hört man auch nicht mehr auf“, sagt Meier.

Sie erreichten das Ziel nach gut 24 Stunden, beide weinend und humpelnd: „Wir haben beide sehr starke Schmerzen, aber sind total glücklich, es endlich gemeinsam ins Ziel geschafft zu haben.“

Besondere Atmosphäre beim Megamarsch auf Sylt

Das Faszinierende am 100-Kilometer-Marsch ist nicht nur das Wandern, sondern die Atmosphäre. Verwundert bis verdutzt beobachten Zwei-Kilometer-Spaziergänger die Sportler, die in ihren Warnwesten und später mit Stirnlampen durch die Nacht laufen. „Müsst Ihr nicht schlafen?“, fragen sie. Oder: „Macht das überhaupt Spaß?“ Doch. Und ja. Schnell kommt man ins Gespräch. Mit jedem Kilometer zieht sich das Wandererfeld auseinander – die große Gruppe zerfällt mit der Zeit in immer kleinere Teilgruppen, die zwischen 4,5 und mehr als sechs Kilometer in der Stunde wandern.

Das Faszinierende am 100-Kilometer-Marsch ist nicht nur das Wandern, sondern die Atmosphäre.
Das Faszinierende am 100-Kilometer-Marsch ist nicht nur das Wandern, sondern die Atmosphäre. © Matthias Iken

Der Zufall treibt dem Wanderer Begleiter auf Zeit an die Seite. Man spricht übers Wandern und die Welt, die Wirtschaft und sogar den Kohleabbau im Rheinland. Was über 2000 Meter Höhe gilt, gilt auch ab 20.000 Meter Distanz – hier gibt es kein Sie mehr, keine Show. Hier schreiten Beamte aus Köln Seit an Seit mit Unternehmern aus Südoldenburg, Krankenschwestern aus dem Osten mit Redakteuren aus Hamburg. Man verlässt nicht nur die Wohlfühlzone, man verlässt auch seine Blase.

Die Gefahr, viele neue Blasen an Ferse und Hacke zu erlaufen, gehört dazu. Kamischke behauptet nicht, dass ein Megamarsch gesund sei. „Danach hat man schon einige Wunden zu lecken: Aber der Lebenswandel als Wanderer ist gesund – man ist viel in Bewegung und an der frischen Luft und achtet besser auf sich.“ Zur Vorbereitung sei Wandern im Alltag wichtig. Kamischke erzählt aber auch, dass oftmals durchtrainierte Marathonläufer nach 42 Kilometern aufgeben, während weniger fitte Sportler die 100 Kilometer schaffen. „Es sind nicht die fittesten, die ins Ziel kommen: Das ist eine Frage der Mentalität.“

Aus einer Schnapsidee wird eine Massenbewegung

In diesem Jahr gab es 21 Megamärsche, zwei davon in Hamburg – 2023 sollen es mindestens so viele werden. In der Hansestadt steigt der Wanderzirkus vom 1. bis zum 2. April. „Wir wollen Hamburg als einen unserer größten Megamärsche etablieren“, sagt Unternehmenssprecher Timo Siebels.

Bis zur ersten Versorgungsstation in der Kurverwaltung von List dauert es gut 23 Kilometer.
Bis zur ersten Versorgungsstation in der Kurverwaltung von List dauert es gut 23 Kilometer. © Matthias Iken

Zusätzlich wird im August der zweite Megamarsch "Hamburg bei Nacht" stattfinden. Hier wandern die Teilnehmer 50 Kilometer in zwölf Stunden durch die Nacht. Zudem soll der erste Megamarsch in Österreich stattfinden, mit Mallorca ist ein weiteres nichtdeutsches Ziel im Angebot. „Wir suchen immer den Kompromiss zwischen schönen, aber machbaren Strecken. Wir wollen keinen ausschließen: Jeder ist ein Gewinner, der seine eigenen Grenzen überwindet“, sagt Kamischke. So spielt die Zeit keine Rolle, der schnellste Finisher bekommt dieselbe Urkunde und Medaille wie der langsamste.

Megamarsch auf Sylt? Idee entstand bei Wanderung in Hamburg

Aber wie kommt man auf diese Idee? „Ich saß mit meinem Kumpel Frederick beim Bier und erzählte ihm, dass ich mich für den ersten Marathon angemeldet habe. Ich wollte ihn motivieren, mitzumachen. Das war ihm zu anstrengend, und so kam die Idee, so weit zu gehen, wie wir können“, erzählt der 32-jährige Kamischke. Sie stießen auf ein Format in Belgien und wollten es selbst organisieren.

Das Echo war überwältigend: Für die erste Veranstaltung in Köln meldeten sich schnell 200 Teilnehmern an, 500 standen auf der Warteliste. Der Durchbruch kam ein Jahr später an Elbe und Alster: „Der erste richtige Megamarsch war der in Hamburg 2017 – da wurde aus einer Schnapsidee ein Unternehmen“, erzählt er. „Damals sind wir mit über 1000 Menschen über den Grünen Ring gewandert. Als wir unsere Idee in der Umweltbehörde vorstellten, hat uns keiner geglaubt. Aber sie haben uns unterstützt.“

Auch der bislang größte Megamarsch ging 2019 in Hamburg los – mit fast 4500 Teilnehmern. Und aus der Wanderung rund um die Hansestadt wuchs die Idee eines Megamarschs auf Sylt. „Ein Teilnehmer kam von der Insel und hat eine Strecke vorgeschlagen.“ Das Sylt-Marketing unterstützte dann die Idee. Die Insel ist einfach der perfekte Platz für bescheuerte Ideen.