Tinnum/Keitum. Mit Tineke Heck-Lemke hat die Insel seit langer Zeit wieder eine neue Friesisch-Lehrerin. Die Sylter Sprache ist vom Aussterben bedroht.

Es ist 7.50 Uhr in der Grundschule Tinnum auf Sylt, als der kleine Muhammed als erster Schüler die Klasse 1a betritt. „Gur Dai“, sagt der Sechsjährige. Das ist Friesisch und heißt Guten Tag. Genauer gesagt ist es Sölring, das Sylter Friesisch. Und Gur Dai sind die ersten zwei Worte, die Muhammed gelernt hat. Kurz darauf kommen 19 weitere Kinder in die Klasse, gefolgt von Tineke Heck-Lemke. Sie ist die neue Sölring-Lehrerin auf Sylt. Und die 1a in Tinnum ist die erste von sechs Klassen, die sie an diesem Tag unterrichtet.

„Ik jit Tineke en hoken best dü?“, fragt die 29-Jährige der Reihe nach die Erstklässler, die erst vor drei Wochen eingeschult wurden und bereits eine neue Sprache lernen, die eigentlich ziemlich alt und vom Aussterben bedroht ist. Und Tineke Heck-Lemke ist diejenige, auf der nun viele Hoffnungen ruhen, damit genau das nicht passiert. Nach vielen Jahren ist mit der gebürtigen Frankfurterin wieder eine Sölring-Lehrerin nach Sylt gekommen.

Tineke Heck-Lemke beim Sölring-Unterricht in der 1a an der Grundschule Tinnum.
Tineke Heck-Lemke beim Sölring-Unterricht in der 1a an der Grundschule Tinnum. © Henrik Jacobs

„Ich glaube nicht, dass ich die Sprache alleine retten kann“, sagt sie gleich zu Beginn des Gesprächs. „Ich weiß aber auch nicht, ob die Sprache gerettet werden muss. Man hat schon vor hundert Jahren gesagt, dass irgendwann keiner mehr Friesisch spricht.“ Und noch immer sprechen einige Sylter Sölring.

Tineke Heck-Lemke sitzt nun vor dem Altfriesischen Haus in Keitum. Das Gebäude unter Reet von 1640 ist Teil der Sölring Museen auf Sylt. Hier können Besucher sehen, wie die Friesen vor fast 300 Jahren gelebt haben. Damals wurde die Sprache, die bei der ersten friesischen Landnahme aus dem heutigen Gebiet der niederländischen Küste von den Friesen mitgebracht wurde, noch von fast allen Syltern gesprochen. Heute ist Sölring bei den meisten Familien – wenn überhaupt – nur noch die Zweitsprache. Das soll sich wieder ändern.

Eine Wochenstunde Friesisch ist verbindlich

„Sölring wird immer größer“, sagt Claudia Junge-Lehtovuori, Leiterin der Grundschule Tinnum. Die Sylterin, die in Hamburg studiert hat und mit ihrem finnischen Mann heute wieder auf ihrer Heimatinsel lebt, will Friesisch auf Sylt wieder stärker in die Lehrpläne einbauen. Eine Wochenstunde Friesisch ist in allen Klassen verbindlich. Junge-Lehtovuori ist glücklich, dass sie mit Tineke Heck-Lemke wieder eine Lehrerin gefunden hat, die den Unterricht auch gewährleisten kann.

Lange Jahre war Britta Frank auf sich alleine gestellt. Doch die Sylterin musste einsehen, dass auch sie sich nicht zwei- oder dreiteilen kann, um an allen Sylter Schulen die Sprache zu unterrichten, die ihr so sehr am Herzen liegt. In der „Sylter Rundschau“ hatte Frank noch vor wenigen Monaten gesagt, dass Sölring nah dran sei am Aussterben. Für ihr Friesisch-Engagement hat sie in diesem Jahr den C.P.-Hansen-Preis erhalten.

Zählen bis zehn: Diese Kindern können das auch auf Friesisch.
Zählen bis zehn: Diese Kindern können das auch auf Friesisch. © Henrik Jacobs

Zurück in der 1a, in der die Sprache wieder eine Zukunft bekommen hat. „Gur Dai, gur Dai, wat fain, dat dü jir best“ singt Tineke Heck-Lemke mit ihren Schülern zu Beginn der Stunde. Viele Kinder kennen das Lied aus dem Kindergarten. Nun singen sie es auf Friesisch. Danach liest die Lehrerin aus dem Buch über die kleine Raupe Nimmersatt vor. Übersetzt ins Friesische von Kai Klint aus Morsum. Dazu malen die Kinder ein Bild aus mit dem bekannten Umriss der Insel Sylt. Danach zählen sie auf Sölring bis zehn und lernen gleichzeitig über das Wetter vom Himmelbogen bis zum Sonnenschein: „Jen, tau, triii, fjuur, fif, soks, soowen, luki tö di Hemel boowen. Aacht, niigen, tiin, bal kumt Senenskiin.“

Nur zwei Prozent der Sylter sprechen Sölring

Das Söl in Sölring ist der friesische Name für Sylt. 16.000 Menschen leben heute auf der Nordseeinsel. Doch nur noch zwei Prozent der Insulaner sprechen diese Sprache. So ganz genau weiß das hier keiner, schließlich gibt es keine offiziellen Zahlen. Genau das will Tineke Heck-Lemke verändern. Im Rahmen ihrer Master-Arbeit plant sie durch eine Befragung herauszufinden, wie viele Menschen auf Sylt tatsächlich noch Sölring sprechen. Sie ist zwar seit diesem Sommer schon festangestellt, doch für ihren ersten Bachelorabschluss an der Universität Flensburg fehlen noch drei Module.

Gar nicht so leicht, das alles unter einen Hut zu kriegen. Denn auch in ihrer Wohnung in Tinnum hat Heck-Lemke mit Tjalve (4) und Fiete (7) noch zwei Kinder, die ihre Mama auf Trab halten. Und ebenfalls Friesisch lernen. Tinekes Mann, ein Malermeister, ist zwar Sylter, spricht aber selbst kein Sölring. Auch zu Hause spricht die junge Familie überwiegend Deutsch – „weil es unsere Herkunftssprache ist“, sagt die Mama. Mit Fiete und Tjalve spricht sie Sölring vor allem im Straßenverkehr. Zudem lernt Fiete Friesisch in der Schule. Natürlich bei seiner Mutter.

„Ik uuni ön Tinem“, sagt Tineke Heck-Lemle zur Klasse 1a – Ich wohne in Tinnum. Fast durchgehend redet die Lehrerin mit den Erstklässlern Friesisch. „Es ist wichtig, dass die Kinder das Sprachbad erleben.“ Am Anfang seien die Kinder noch etwas schüchtern, erzählt Heck-Lemke. Doch nach dem ersten Satz, den die Schüler selbst sagen, ist das Eis meist gebrochen. Erst kürzlich fragte sie ein Erstklässler auf dem Schulhof: Wer bist du? Und zwar auf Friesisch. „Das ist cool“, sagt die Lehrerin.

Friesisch kann man nur in Flensburg oder Kiel studieren

Dass sie selbst mal Sölring auf Sylt unterrichtet, war schon lange ihr Plan. Ihre Großeltern aus Niedersachsen leiteten einst ein Kinderheim und waren mit den Kindern oft auf Sylt. Später dann mit ihren eigenen sieben Kindern. Weil es für so viele Kinder keine Ferienwohnungen gab, kauften sie ein Haus. So war auch die kleine Tineke oft auf Sylt. Nach ihrem Abitur machte sie einen Freiwilligendienst in Braderup, dann begann sie ihr Studium in Flensburg: Deutsch, Englisch und Friesisch auf Lehramt. Die Sprache der Nordseeinseln kann man nur in Kiel oder Flensburg studieren.

An der Uni Flensburg war das Fach zudem zunächst auf Fering spezialisiert, das etwas andere Friesisch von Föhr. Anschließend konnte Heck-Lemke Mooring studieren, also das Friesisch, das auf dem Festland rund um Bredstedt gesprochen wird. Erst nach ihrer Elternzeit wurde dann auch Sölring an der Uni angeboten. „Die Universität ist sehr bemüht, Friesisch wieder auf breitere Beine zu stellen“, sagt Heck-Lemke. So lehrte etwa die Föhrer Autorin Ellin Nickelsen in Flensburg.

Modernes Friesisch-Lehrmaterial ist noch Mangelware

Trotzdem musste Tineke Heck-Lemke auch viel persönlichen Einsatz investieren, um Sölring so zu lernen, dass sie es heute unterrichten kann. Modernes Lehrmaterial ist noch Mangelware. An der Grundschule Tinnum aber entsteht immer mehr. Gerade erst wurde ein Technikturm als MINT-Angebot errichtet, in dem die Schüler Experimentierkästen mit Anleitungen finden, die ins Friesische übersetzt wurden.

Für die Klasse 1a geht es an diesem Dienstag nach dem Friesisch mit Deutsch, Sport und Mathematik weiter, für Tineke Heck-Lemke stehen noch fünf weitere Friesisch-Stunden in fünf verschiedenen Klassen an. Hinzu kommen noch zwei Stunden in der Woche an der Norddörfer Schule und drei an der Dänischen Schule in Westerland. Sie findet es zwar schade, dass die Kinder nur eine Stunde Friesisch pro Woche haben, viel mehr wäre mit den zwei Sölring-Lehrerinnen auf Sylt aber auch gar nicht zu leisten.

Kommen keine neue Friesisch-Lehrer dazu, wäre Tineke Heck-Lemke in einigen Jahren die Einzige, die noch Sölring unterrichtet. So weit wird es aber nicht kommen, glaubt die Lehrerin, Studentin und zweifache Mutter. „Ich hoffe, dass wir nicht wieder Jahrzehnte warten müssen, bis die nächsten Sölring-Lehrer nach Sylt kommen.“

Die 1a hat ihre erste Friesischstunde der Woche nach 40 Minuten in jedem Fall geschafft. Der kleine Gabriel sammelt die Hefte ein, dann singt die Klasse noch ein letztes Lied: „Ik sii fuul Toonk fuar des Dai“ – Ich sage vielen Dank für den Tag.