Hörnum. Seit 20 Jahren kümmert sich Thomas Diedrichsen um tote Seehunde. Manchmal muss er sie selbst erschießen – und mit Protesten leben.
Der Einsatz dauert nur fünf Minuten. Thomas Diedrichsen sitzt auf einem kleinen Rettungsboot, zückt sein Handy und schreibt in die Whatsapp-Gruppe der Seehundjäger Sylt: „Erledigt“. Es ist 17.27 Uhr. Soeben hat der 56-Jährige einen toten Seehund aus dem Hafen in Hörnum gefischt. Drei Stunden zuvor bekam er einen Anruf von der Schutzstation Wattenmeer. Mit seinem Toyota Hilux Geländewagen machte sich Diedrichsen direkt auf den Weg.
Vom Lister Ellenbogen im Norden, wo der Sylter wohnt, bis an die Südspitze der Insel braucht Diedrichsen ungefähr eine Stunde. Er hat Kollegen vom LKN, dem Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz gefragt, ob sie ihn mit einem Boot zum toten Seehund fahren können. Diedrichsen hat ein Seil, eine Mülltüte und OP-Handschuhe dabei. Die Touristen, die oben am Beckenrand auf die nächste Fähre nach Föhr warten, winken ihm zu und zeigen auf das treibende Tier.
Im Hörnumer Hafen stinkt es nach Tod und Verwesung
Es stinkt schon aus der Entfernung nach Tod und Verwesung. Dann lehnt sich Diedrichsen vorne über das Boot, zieht das Seil um den Hals des Seehundes und den Kadaver hinaus aus dem Wasser direkt in die große Tüte. Das Tier war nicht mehr zu retten. Rund 15 Kilogramm ist es schwer. Der Seehund war noch jung. Mit einem Strick verschließt Diedrichsen die Tüte. Auftrag ausgeführt.
Der Seehundjäger erklärt, dass die Jungtiere nach der Geburt nur vier Wochen gesäugt werden. „Dann will die Mutter nichts mehr mit dem Tier zu tun haben und der Seehund muss alleine klarkommen“, sagt Diedrichsen. „Und der hier kam nicht alleine klar.“
Diedrichsen ist einer von vier lizenzierten Seehundjägern auf Sylt. Sie sind offiziell vom Land Schleswig-Holstein beauftragt. Ein Ehrenamt. Diedrichsen macht den Job nun schon seit 20 Jahren. Die Seehundjäger sind dafür zuständig, die toten Meeressäuger auf der Insel einzusammeln. Dazu gehören neben den Seehunden auch die Kegelrobben und die Schweinswale.
Die totkranken Seehunde werden mit einer Neun-Millimeter-Pistole erschossen
Diedrichsen und seine Kollegen kommen meist dann, wenn es zu spät ist. Manchmal schicken sie die Tiere zur einzigen autorisierten Seehundaufnahmestation nach Friedrichskoog, wo sie wieder aufgepäppelt werden. Manchmal aber sind die Seehunde nicht mehr zu retten. Dann haben die Seehundjäger die Erlaubnis, die Tiere mit einer Neun-Millimeter-Pistole zu erschießen und sie von ihrem Leid zu erlösen. „Ich habe Tausende Seehunde gesehen. Ich kann erkennen, ob das Tier fit ist oder nicht“, sagt Diedrichsen und packt die Tüte mit dem toten Seehund auf die Ladefläche seines SUV‘s.
Die Tierschützer sehen das naturgemäß anders. Seit Jahren müssen sich die Seehundjäger heftiger Kritik erwehren. Auf der Homepage der deutschen Tierschutzorganisation Peta heißt es: „Seehundjäger:innen erschießen an der deutschen Nordseeküste jedes Jahr Hunderte, oft verletzte, verlassene oder kranke Seehunde. Oft kommen sie zu dem Schluss, die Tiere seien nicht überlebensfähig. Die Entscheidung über Leben und Tod treffen sie jedoch spontan und ohne medizinische Untersuchungen – denn Seehundjäger:innen gehen der Hobbyjagd nach und hatten nur eine kurze Schulung über Robben.“
Hochsaison in der Seehundstation – täglich neue Heuler
Wie Sylt eine Welle für den Meeresschutz auslösen will
Gestrandeter Wal ruft Sylter Seehundjäger auf den Plan
Thomas Diedrichsen schüttelt mit dem Kopf. Er sitzt nun nach getaner Arbeit im Hörnumer Hafen vor der Fischbude Matthiesen und bestellt sich eine Portion Backfisch mit Pommes und eine Cola. Vor ihm liegt ein kleiner Katalog mit verschiedenen Krankheitsbildern von Seehunden, ausgestellt von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Auf den einzelnen Seiten: Eitrige Gelenkentzündung, Bakterielle Zoonosen, Darmgeschwüre, Lungenwürmer.
Diedrichsen ist zwar kein Tierarzt, wurde aber von Wissenschaftlern und Tiermedizinern ausgebildet. Mit totkranken Seehunden kennt er sich aus. Warum der junge Seehund im Hörnumer Hafen gestorben ist, lässt sich aufgrund der Verwesung aber nicht mehr erkennen. Diedrichsen muss noch eine Todesmeldung für das Ministerium in Kiel schreiben. Dann bringt er die Tüte mit dem toten Seehund nach Rantum zur Tierkörperbeseitigung der örtlichen Entsorgungsanlage.
Jeder erschossene Seehund auf Sylt muss zur Obduktion geschickt werden
Hat der Seehundjäger einen Seehund erschossen, muss er den Kadaver nach Büsum zum Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) schicken. Bei einer Obduktion wird dort untersucht, ob das Tier wirklich so krank war, dass es nicht mehr länger hätte leben können. Bis heute wurde den Seehundjägern noch keine falsche Einschätzung nachgewiesen. Seit die Tierschützer protestieren, müssen sie jedes geschossene Tier verschicken, zuvor war es nur jedes zehnte.
Zu diesen Tierschützern zählt auch Janine Bahr-van Gammert. Die 55-Jährige hat auf der Nachbarinsel Föhr im Jahr 2010 ein Robbenzentrum zur Rettung der Meeressäuger gegründet. Zusammen mit ihrem Mann André kämpft sie seit Jahren gegen die Arbeit der Seehundjäger. Sie ist der Überzeugung, dass jedes kranke Tier mit der nötigen Medizin und Zuwendung noch eine Überlebenschance hat. Offiziell darf sie als Tierärztin aber nur die Erstversorgung übernehmen. Danach müssten die Tiere nach Friedrichskoog.
Tierärztin musste vor Gericht, weil sie einen Seehund rettete
Weil sie mal einen Heuler aus dem Wattenmeer rettete und pflegte, musste sie sich sogar vor dem Amtsgericht Husum verantworten. Denn die Entscheidung, ob so ein Tier gerettet wird, obliegt allein den Seehundjägern. Dieses Alleinstellungsmerkmal der Meeressäugerschützer, über Tod und Leben der Seehunde zu entscheiden, will Bahr-van Gammert nicht akzeptieren. Für sie ist das sogar ein „Skandal“, der vom Ministerium „gedeckelt" werde.
In ihrer Grundhaltung sind die Tierschützer und die Seehundjäger dabei gar nicht so weit auseinander. Auch Thomas Diedrichsen hat Mitleid mit den Seehunden. Weniger mit den toten Tieren, die er entsorgt, sondern mit den lebenden, denen die Touristen immer wieder zu nahekommen.
Er fährt nun an einen kleinen Strandabschnitt im Hörnumer Hafen, an dem häufig eine Handvoll Seehunde liegt. Diedrichsen sieht aber zunächst nur Eiderenten in der Schutzzone sitzen. Der Strandabschnitt ist abgegrenzt. „Achtung, rastende Robben“, steht auf einem Schild. Touristen müssen 50 Meter Abstand halten. Nicht jeder hält sich daran.
„Die Tiere tun mir leid. Sie können sich nicht richtig ausruhen“, sagt Diedrichsen. Durch sein Fernglas entdeckt er zwischen den Eiderenten dann doch noch einen kleinen Seehund. „Der könnte auch tot sein“, sagt der Seehundjäger, klettert über die Absperrung und guckt sich das Tier an. Diedrichsen senkt den Daumen. Auch dieser Seehund hat es nicht geschafft. Er dreht den Seehund auf die Seite und guckt in den Darm. „Pechschwarzer Durchfall. Der war unterernährt.“ Diedrichsen holt die nächste Mülltüte aus seinem Auto und sagt mit etwas schwarzem Humor: „Dann hat sich die Fahrt noch etwas mehr gelohnt.“
Seehundjäger auf Sylt: 45 Euro Aufwandsentschädigung für ein geborgenes Tier
45 Euro bekommen die Seehundjäger als Aufwandsentschädigung für ein totes Tier. Diedrichsen hat dieses Geld nicht nötig. Er ist als nördlichster Bewohner der Insel Miteigentümer des Sylter Ellenbogens. Dort vermietet Diedrichsen Ferienwohnungen im Naturschutzgebiet. Die Arbeit als Seehundjäger macht er gerne. Trotz der Kritik der Tierschützer.
Diese werfen den Seehundjägern vor, sie würden die Tiere mutwillig töten, um daran zu verdienen. Peta schreibt dazu: „Im Jahr 2019 wurden 776 Tiere erschossen – das bedeutet eine Aufwandsentschädigung von mehr als 30.000 Euro, die sich einige wenige Hobbyjäger:innen jährlich dazuverdienen.“
Thomas Diedrichsen kann darüber nur noch müde schmunzeln. Der Protest begleitet ihn schon jahrelang, seit die „Bild“-Zeitung vor acht Jahren das erste Mal über das Töten der Seehunde auf Sylt berichtete. Diedrichsen wurde von einem Fotografen beobachtet, wie er ein Tier erschoss. Das Bild mit spritzendem Blut landete auf der Titelseite des Boulevardblatts. Dazu der Text: „Die Lizenz zum Robbentöten“. Daraufhin berichteten alle großen Medien über die Debatte, auch das Abendblatt.
Seehund-Population in der Nordsee ist so groß wie noch nie
Für die Seehunde selbst hat sich durch die große Welle der Empörung nichts verändert. Die Population ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, nachdem verschiedene Seuchen wie die Vogelrippe oder die Staupe-Epidemie den Bestand reduziert hatten. 42.000 Seehunde leben aktuell in der Nordsee – so viele wie nie zuvor. Vor einem Jahr haben die Sylter Seehundjäger rund 1000 Seehunde geborgen, 40 Prozent davon tot. Hinzu kamen 80 Schweinswale und 50 Kegelrobben.
Dass vor allem die niedlichen Heuler mit ihren großen Kulleraugen die Menschen faszinieren, trägt nicht gerade zu einer Versachlichung der Debatte bei. Dabei sind die Kegelrobben offiziell sogar die größten Raubtiere Deutschlands. Manche Seehunde und Kegelrobben töten sich gegenseitig. Diedrichsen öffnet auf seinem Handy ein Fotoalbum. Zerfleischte Seehunde, verhungerte Seehunde, halbierte Seehunde.
Grünen-Politiker Robert Habeck verteidigte die Seehundjäger auf Sylt
Das Blut der toten Tiere gehört zum Alltag der Seehundjäger dazu. Genau wie der Protest der Tierschützer. Sogar der heutige Wirtschaftsminister Robert Habeck sah sich 2014 als damaliger Umweltminister Schleswig-Holsteins veranlasst, die Seehundjäger zu verteidigen. „Es gehört zu ihrer Verantwortung, die kränksten Seehunde von ihren Leiden zu erlösen", teilte Habeck vor acht Jahren mit.
Womöglich wäre es eine Lösung, hätte Deutschland ähnliche Regeln wie Dänemark. Dort ist nicht nur wie in Deutschland seit 1974 die Seehundjagd verboten. Es gibt dort auch keine Seehundjäger, die die Tiere von möglichen Todesqualen erlösen. In Dänemark wird alles der Natur überlassen. Womöglich würde es aber auch helfen, wenn die Seehundjäger nicht mehr Seehundjäger heißen würden. Denn schließlich jagen sie ja gar nicht.
„Wir helfen den Tieren“, sagt Thomas Diedrichsen, zu dessen Alltag nicht nur die Seehunde gehören. Gerade erst hat er auf Sylt einen gestrandeten Grindwal gesehen. 2017 wurde ein toter Blauhai am Strand von Rantum angespült, ein Jahr zuvor ein verendeter Baby-Orca.
Ob sein Job als Seehundjäger spannend sei? Diedrichsen wägt ab. „Du stehst immer in der Öffentlichkeit, musst dich immer erklären“, sagt er. Aber mit dem Widerstand habe er sich mittlerweile abgefunden. „Man wird nie auf einen Nenner kommen.“ Schon gar nicht, wenn es um tote Robben und Seehunde geht.