Westerland. Inzwischen sind sie Teil der Szenerie in Westerland: die Punks, die mit dem 9-Euro-Ticket kamen – und beschlossen, länger zu bleiben.
Sie sind der Hingucker der Saison auf der für ihre gut betuchten Gäste und Bewohner berühmten Insel Sylt: die 9-Euro-Ticket-Punks. Seit Monatsanfang haben sie das Eiland gekapert. Als Basislager dient ihnen dabei der Vorplatz des Edeka-Marktes „Biallas“ in Westerland. Dort gruppieren sie sich rund um die Bronzestatue „Dicke Wilhelmine“, trinken Bier aus Dosen, schminken sich mit tiefschwarzem Eyeliner und skandieren hin und wieder antifaschistische Parolen.
Aber von vorn: Vor einigen Wochen regten sich Stimmen, die aufgrund der nunmehr günstigen Fahrpreise Massen an untypischen und ungebetenen Gästen – den sogenannten 9-Euro-Touristen – auf Sylt witterten. Diese Angst nahmen Punks, Autonome und andere Unangepasste aus ganz Deutschland ernst und beschlossen, den Insulanern das Fürchten zu lehren. So riefen sie analog zu den legendären „Chaostagen“ auf Sylt von 1995 dazu auf, die Schickimicki-Insel zu kapern.
Punks auf Sylt: "Die Cops finden uns besser als die meisten Touristen"
Nun sitzen sie, die Punks, in wechselnder Konstellation vor der Edeka-Filiale und trinken Dosenbier. Rentner an Rollatoren, Pärchen mit vor der Brust verknoteten Kaschmir-Pullovern oder der Camper mit Isomatte unter dem Arm laufen an ihnen vorbei. Viele machen Fotos von den bunten Irokesen, einige rücken auf Nachfrage Zigaretten heraus, andere kommen mit den Rebellen ins Gespräch. Wer die Szene beobachtet, denkt schneller an das Wort „Idylle“ als an „Klassenkampf“.
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Das berichtet auch Kitty. Die Rothaarige trägt ein Stachelhalsband, das ziemlich angsteinflößend wäre, wenn sie nicht so viel grinsen würde. Dass sie als Punkerin auf Sylt ständig fotografiert wird, stört sie überhaupt nicht – im Gegenteil. Sowieso gefalle ihr die Insel: „Die Cops finden das total cool, dass hier mal was los ist. Sie finden uns besser als die meisten Touristen, haben sie gesagt“, kommentiert sie das Auskommen der vermeintlichen Rowdys mit den örtlichen Polizisten.
Punks wurden von Fremden mit Flaschen beworfen – und von der Polizei beschützt
Sie begrüßt es außerdem, dass so viele Passanten einfach mit der Szene ins Gespräch kommen. „Und wenn du hier schnorrst, machst du richtig Geld“, freut sie sich. 60 Euro seien neulich in nur einer Stunde in ihrem Becher gelandet. „Sonst kannst du dich freuen, wenn’s fünf sind“, sagt Kitty, dreht sich um und küsst ihre Freundin Solly aus heiterem Himmel leidenschaftlich auf den Mund. „Hier küsst jeder jeden“, begründet sie achselzuckend. Ob das eine Aufforderung sein sollte, bleibt im Ungewissen.
Dennoch: Bei den Inselpunks herrscht nicht ausschließlich „Peace and Love“. Erst am Freitag sei die Gruppe von Fremden mit Flaschen beworfen worden. Die Auseinandersetzung habe diverse Platzwunden nach sich gezogen, die Polizei aber schnell eingreifen können.
Punks auf Sylt: Nudel hat nur durch Zufall vom 9-Euro-Ticket erfahren
Eine besonders augenfällige Erscheinung auf dem Platz rund um die „Dicke Wilhelmine“ ist Punkerin Nudel. Ihre Wangen sind alkoholgerötet, durch ihre Kappe bohren sich massive Schrauben und an einem Ohr hängt ein großer, gelblicher Zahn, der von einem Wildschwein stammt, wie sie auf Nachfrage berichtet.
Nudel ist vollständig aus der Gesellschaft ausgestiegen. Sie hat kein Handy oder Internetzugang und erst recht noch nie vom Hamburger Abendblatt gehört. Dass sie sich überhaupt auf Sylt tummelt, ist einem Zufall geschuldet – denn selbstverständlich hat Nudel ebenfalls nichts vom Rummel um das 9-Euro-Ticket mitbekommen. „Auf der Straße hat mich irgendeiner gefragt, warum ich eigentlich nicht auf Sylt bin“, erzählt sie. Anschließend habe sie sich die Situation erklären lassen und dampfte ab auf die Insel. Wie viele der Punks auf Sylt weiß Nudel nicht, wie lange sie bleiben wird. Bis morgen auf jeden Fall.
Kitty wiederum reist fürs Erste ab. Aber sie will bald zurück sein: „Im Juli komme ich wieder, da sollen hier nochmal Bands spielen und alles!“ Das „Klassentreffen“ auf Sylt geht also weiter – zumindest, solange das 9-Euro-Ticket gilt.