Brokdorf. Zum Jahreswechsel geht eines der weltweit zuverlässigsten Kernkraftwerke vom Netz – nach 35 Jahren. Was das mit den Menschen macht.
Das ist die Geschichte von Karsten Hinrichsen, 78, schlank, grauhaarig, keiner, der auffällt. Keiner, an den man sich erinnert nur aufgrund seiner Erscheinung. Aber vergessen dürfte ihn niemand, der einmal mit ihm und seinem Lebenswerk zu tun hatte. Nicht die Top-Manager, nicht deren Juristen, nicht die Politiker, nicht deren Ministerialbürokraten. Hinrichsen kämpft schon ein gutes halbes Leben lang gegen die friedliche Nutzung der Atomenergie – und gegen das AKW in Brokdorf.
Jetzt, nach mehr als 40 Jahren, ist er am Ziel, Brokdorf wird ein für alle Mal abgeschaltet. Der Atomreaktor wird Geschichte. Und der Anwohner und sein Protest gleich mit. Das hier ist auch die Geschichte von Uwe Jorden, dem Leiter eines der weltweit zuverlässigsten Kernkraftwerke; die von Elke Göttsche, der Bürgermeisterin eines der vermutlich reichsten Orte des Landes, und die von Jan Philipp Albrecht, dem grünen Minister aus Kiel.
Brokdorf: Atomkraftwerk wird abgeschaltet
Ob es ein Sieg sei, wenn zum Jahreswechsel die Ära Brokdorf ende, wurde Hinrichsen so oft gefragt, dass er einer Antwort müde wirkt. Einer Antwort, die überrascht, wenn sie dann doch noch fällt. „Nein“, sagt Hinrichsen, zum einen klinge das Wort Sieg viel zu militärisch, zum anderen habe es für einen Sieg viel zu lange gedauert. „Genugtuung und Freude“ sei es, was er empfinde, sagt der Wissenschaftler – Hinrichsen war Meteorologe an der Universität Hamburg. Und nein, der Widerstand gegen den Reaktor, der sein Leben geprägt hat, werde ihm nicht fehlen. „Der Protest hat oft in mein Privatleben reingefunkt“, räumt Hinrichsen ein.
Der Rohbau des Druckwasserreaktors stand bereits, als er von Hamburg in die Wilstermarsch zog. Um gegen den Betrieb klagen zu können, unterstellen ihm seine Gegner. „Um aus der Stadt zu kommen und auf dem Land leben zu können“, sagt der Protest-Rentner. Die Stadtflucht hat er nie bedauert, aber richtig angekommen auf dem Land ist er auch nicht. Der Kontakt zu den Brokdorfern sei eher bescheiden geblieben, ein wenig „traurig“ sei er schon darüber, sagt Hinrichsen. Und dass er sich von vielen „dörflichen Ereignissen ausgeschlossen gefühlt“ habe.
Hinrichsen stellte ein Windrad auf
Als Hinrichsen hierher zog und auf seinem Grundstück ein 50 Meter hohes Windrad aufstellte, hielten ihn viele für einen Spinner; wer es nicht ganz so übel mit ihm meinte, nannte ihn wohl einen Öko. Auch wenn damals reichlich „Symbolik“ hinter der Idee steckte, nur 800 Meter vom AKW entfernt ein einzelnes Windrad aufzubauen, gibt die Zeit Hinrichsen recht: Wer heute durch die Elbmarsch fährt, sieht – wie in vielen Teilen des Landes im Norden – Windrad an Windrad stehen. 160 Prozent des schleswig-holsteinischen Strombedarfs, rechnet der grüne Umweltminister Jan-Philipp Albrecht vor, würden inzwischen in Schleswig-Holstein regenerativ erzeugt, rein rechnerisch.
Brokdorf ist ein gewöhnlicher Ort. Und ein ungewöhnlicher zugleich. 1000 Menschen leben hier, es gibt die Feuerwehr, die Pfadfinder, den Boßelverein, die Fußballer, es wird gesungen und geangelt. Aber es gibt halt auch das schicke Schwimmbad, die moderne Eishalle, die Bücherei und die Kläranlage, damals die erste in der Region. Brokdorf ist reich. Noch. Nun aber enden die üppigen Gewerbesteuereinnahmen. Wie viel genau, verrät Elke Göttsche nicht, das fällt unter das Steuergeheimnis.
„Niemand anderer hätte sich das getraut"
Frau Göttsche ist seit acht Jahren die Bürgermeisterin. Seit sie ihr Amt angetreten hat, weiß sie, dass ab 2022 die Zeit eine neue sein wird. 2011 hatte die CDU-FDP-Koalition, geschockt von der Reaktorkatastrophe in Fukushima, überraschend den Atomausstieg beschlossen – nur ein Jahr nachdem sie die Laufzeiten der Reaktoren noch ordentlich verlängert hatte. „Ich bin zum Fan von Frau Merkel geworden“, sagt Karsten Hinrichsen über die Ex-Kanzlerin. „Niemand anderer hätte sich das getraut. Alle anderen Politiker wären vermutlich zu feige gewesen, den Atomausstieg durchzusetzen“, sagt Hinrichsen.
Seit ihrem Amtsantritt weiß die CDU-Politikerin Göttsche, was das von ihrer Parteifreundin Merkel durchgepeitschte Aus für Brokdorf bedeutet: das Ende der üppigen Steuereinnahmen. „Die Gemeinde hat sich auf die Zeit eingestellt, die kommt“, sagt sie. Einstellen heißt, dass Investitionen Geschichte sind, dass es jetzt darum geht, „das, was da ist, zu erhalten“. Wie das tolle Bad und die schicke Eissporthalle. Das Aus für das „sehr gut geführte Kraftwerk“ sei für die Mitarbeiter schwierig und für die Gemeinde bedauerlich, sagt die Bürgermeisterin. Die gesamte Region habe über Umlagen profitiert.
Elke Göttsche: Die Gemeinde hatte großes Vertrauen
Und Brokdorf sei durch die Investitionen gewachsen. „Die Gemeinde hat Anreize geschaffen, junge Familien sind hergezogen“, sagt Frau Göttsche. Mitte der 1970er-Jahre habe man rund 750 Einwohner gehabt, jetzt seien es etwa 1000. Der ganz große Teil der Einwohner habe „großes Vertrauen in den sicheren Betrieb“ der Anlage gehabt. Und Herr Hinrichsen und seine Initiative „Brokdorf akut“? Man respektiert sich, sagt die Bürgermeisterin.
Zurück zu dem Außenseiter von Brokdorf. Nicht nur viel Kraft hat ihn der Kampf gekostet – sondern auch viel Geld. Ein kleines Vermögen hat Hinrichsen aus eigener Tasche gezahlt, um gegen die Betriebserlaubnis des Reaktors zu klagen. Viele Jahre zog sich das hin, es ging bis zum Bundesverwaltungsgericht. 20.000 D-Mark schoss die oppositionelle Landes-SPD damals als „Wahlkampfspende“ bei, wie Hinrichsen sagt. 80.000 zahlte er selbst für den Weg durch die Instanzen. Vergebens.
Brokdorf ging 1986 ans Netz
Rückblende. Es ist ein kalter, ungemütlicher Morgen im Februar 1981, als sich um die 100.000 Menschen aufmachen, in der Wilstermarsch gegen den Bau des Druckwasserreaktors zu demonstrieren. Etliche von ihnen wollen das Gelände stürmen. Es ist die bis dahin größte Anti-AKW-Demonstration überhaupt. Mittendrin: Karsten Hinrichsen und seine Frau. Was dann geschah, beschreibt er mit drastischen Worten: „Es war wie im Krieg.“ Ein Krieg mit Steinen, Wasserwerfern, Tränengas und vielen Verletzten auf beiden Seiten. Ausschreitungen wie diese vor 40 Jahren nerven Hinrichsen noch heute: weil der Krawall von der Debatte ablenke. „Wir müssen die Menschen mit guten Argumenten überzeugen, auf die Nutzung der Atomkraft zu verzichten. Nicht mit Gewalt.“
Genutzt hat der Protest, mal friedlich, mal voller Gewalt, nichts. Fast idyllisch am Deich gelegen und nur zehn Kilometer entfernt vom AKW Brunsbüttel ging Brokdorf am 14. Oktober 1986 ans Netz. Als letztes neu gebautes Kernkraftwerk in Deutschland – und nur ein halbes Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Auch daher hat „Brokdorf diese besondere Symbolik bis heute“, sagt Umweltminister Albrecht.
In Brokdorf beginnt ein neues Kapitel
Wenn Brokdorf in der Nacht zu Sonnabend vom Netz geht, endet eine Ära. Rund 380 Milliarden Kilowattstunden Strom wird das Atomkraftwerk dann erzeugt haben. Damit steht hier eines der drei erfolgreichsten AKW weltweit. Die beiden anderen „sind auch von uns“, sagt Guido Knott stolz. Er ist Vorsitzender der Geschäftsführung beim Energiekonzern PreussenElektra, der zu Eon gehört. „Das Kraftwerk hat einen wichtigen Beitrag zu einer klimaschonenden und stabilen Stromversorgung in Schleswig-Holstein geleistet. Nun beginnt ein neues Kapitel“, sagt Knott. Das neue Kapitel heißt Rückbau.
Den verantwortet der langjährige Kraftwerksleiter Uwe Jorden. Der 66-Jährige will „das hier zu Ende bringen, weil mir das Kraftwerk und die Mitarbeiter sehr am Herzen liegen“, sagt Jorden. „Das hier“, so nennt Jorden, der seit 16 Jahren Chef der Anlage ist, ihr Abschalten. Jorden wird am Freitag dabei sein, wenn der Reaktorfahrer im Leitstand den Schalter umlegt. Der Prozess des Runterfahrens wird etwa vier Stunden dauern. Dann ist nach dem Aus für Krümmel und Brunsbüttel auch das letzte der ursprünglich drei großen Atomkraftwerke im Norden Geschichte. „Silvester, kurz vor Mitternacht, wird endgültig klar, dass es zu Ende ist“, sagt Jorden. Das werde sehr bedrückend, für ihn und für das Team.
„Für mich ist die Entscheidung nicht nachvollziehbar"
Das Team, das sind immer noch 320 Menschen aus der Region, darunter immer noch einige Auszubildende. Für alle gilt es eine Beschäftigungsgarantie bis 2029. Wer aber beim Abriss der Anlage nicht dabei sein will, konnte vorzeitig in den Ruhestand gehen. Bei einer virtuellen Betriebsversammlung nur wenige Tage vor Weihnachten haben Knott und Jorden und Albrecht zu den Mitarbeitern gesprochen. „Ich bin sicher, dass die letzten Tage in der Anlage eher Wehmut auslösen als Freude“, hat der grüne Minister gesagt. Und dass Brokdorf „große Bedeutung für die Energieversorgung im Norden hatte“. Albrecht lobte Werkleitung und Mitarbeiter: „Die Anlage war sehr gut gemanagt.“ Das erkenne man auch an den „sehr wenigen Zwischenfällen“.
Im Aus für Brokdorf sieht Albrecht eine „symbolische Vollendung des Atomausstiegs“. Den hat Werkleiter Jorden nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima „akzeptiert“. Verstehen könne er den Schritt aber nicht, hat er der Deutschen Presse-Agentur gesagt. „Das hat uns natürlich sehr bewegt – bis hin zur Wut“, sagt er. „Für mich als Techniker ist die Entscheidung nicht nachvollziehbar. Es ist fraglich, ob das alles so richtig ist, was in Deutschland passiert.“ Er meint damit auch den ebenfalls geplanten Ausstieg aus der Kohle.
Zuerst wird der Reaktor kaltgefahren
Bis 2039, sagt PreussenElektra-Vorstand Knott, soll der „kerntechnische Rückbau des schönsten Kernkraftwerks der Welt“ beendet sein. Der Zeitplan ist ambitioniert, auch wenn es zunächst nicht danach klingt. Um ihn einzuhalten, hofft das Unternehmen auf die Abrissgenehmigung des Umweltministeriums bis Ende 2022. Albrechts Fachleute prüfen die Abrissanträge des Unternehmens übrigens bereits seit vier Jahren.
Der Rückbau der Anlage beginnt damit, „den Reaktor kaltzufahren“, dann werden nach ein paar Tagen die 193 Brennelemente entnommen und erst einmal im Hochsicherheitsgebäude im Abklingbecken „geparkt“, bevor sie in Castoren verpackt werden. Diese Spezialbehälter ziehen dann um ins offizielle Zwischenlager auf dem Gelände in Brokdorf. Bis zu 100 Castoren mit je 19 Brennelementen werden hier dann die nächsten Jahrzehnte gelagert – bis irgendwann einmal ein atomares Endlager gefunden und genehmigt ist.
„Das Sicherheitsniveau ist sehr hoch"
35 gefüllte Castoren stehen schon im Zwischenlager. Sieben mit radioaktiven Brennelementen warten noch in der britschen Aufbereitungsanlage Sellafield auf den Rücktransport an die Elbe. Bis zu 42 Castoren mit Brennstäben aus dem Brokdorfer Reaktor kommen noch dazu. Umweltminister Albrecht hat keine Bedenken, die hoch radioaktiven Brennelemente auf dem Gelände zwischenzulagern. „Das Sicherheitsniveau ist sehr hoch und wird regelmäßig aufs Neue überprüft.“ Zum Beispiel auf die Sicherheit vor einem Terroranschlag mit einem größeren Flugzeug.
Dieses Zwischenlager bereitet den Atomkraftgegnern um Karsten Hinrichsen Sorge. Sie glauben nicht daran, dass der Schutz gegen „panzerbrechende Waffen oder Flugzeuge“ ausreicht. „Oder was ist, wenn die Deckel der Castoren doch undicht werden?“, fragt Hinrichsen. „Wir wissen nicht, was die Brennelemente über die Jahrzehnte mit den Behältern machen.“ Er sorgt sich auch deshalb, weil in den Rückbauunterlagen für Brokdorf „dieselben Grenzwerte beantragt wurden wie für den Normalbetrieb des Kraftwerks.“
Beton und Stahl soll recycelt werden
Auch der schwach- und mittelradioaktive Abfall aus der Anlage wird erst einmal in Brokdorf zwischengelagert, geht dann ins Endlager Schacht Konrad. Was übrig bleibt, also vor allem Beton und Stahl, soll möglichst recycelt und zum Beispiel beim Autobahnbau verwendet werden. Das sind immerhin noch rund 95 Prozent der Bausubstanz.
Aber ist das Aus für die Atomkraft überhaupt vernünftig vor dem Hintergrund des Klimawandels und der von der neuen Bundesregierung vorgezogenen Dekarbonisierung? Der grüne Minister sagt Ja, der Atomausstieg sei „absolut richtig. Wir hatten schon immer Sicherheitsbedenken bei dieser Hochrisikotechnologie.“ Albrecht begründet das auch mit der immer noch ungelösten Endlagerfrage. Mit einer Entscheidung zu diesem Kern-Problem wird frühestens um 2050 gerechnet.
Brokdorf: Treffen auf dem Deich geplant
Für Jan Philipp Albrecht ist klar, dass trotz des Baus neuer Atomkraftwerke beispielsweise in Frankreich „diese Energieerzeugung keine Zukunft“ hat. Der Minister, der nach der Landtagswahl im Mai als Geschäftsführer zur Heinrich-Böll-Stiftung wechseln wird, setzt stattdessen auf die Verstromung und Wärmegewinnung aus erneuerbaren Energien. Ob er Sorgen habe vor einem Blackout, jetzt, wo alle drei Atomkraftwerke im Land abgeschaltet sind, wird Albrecht gefragt? „Nein“, sagt der Grüne. „Die regelmäßigen Revisionen zeigen doch, dass die Stromversorgung auch sicher ist, wenn Brokdorf abgeschaltet ist“, so Albrecht.
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Zurück zu Karsten Hinrichsen. Er hat geklagt, hat demonstriert, Mahnwachen abgehalten, Eingaben gemacht, in der Bürgerfragestunde der Gemeinde den Atombetrieb zum Thema gemacht (und damit auch viele Brokdorfer reichlich genervt). Jetzt ist Schluss damit. Am Sonnabend ist noch ein letztes Treffen der Wegbegleiter auf dem Deich geplant. Mit Sekt, Kaffee, Kuchen und reichlich Anekdoten aus vier Jahrzehnten. Dann dürfte auf beiden Seiten des Sicherheitszauns Wehmut aufkommen. Bei den Beschäftigten, aber auch bei den Atomkraftgegnern um Karsten Hinrichsen. „Wirklich gewonnen hätten wir, wenn wir schon damals alle AKW verhindert hätten.“
Ein Sieg fühlt sich anders an.