Schleswig-Holstein. Die Angeklagte Irmgard F. (96) bleibt stumm – im Gegensatz zum Nebenkläger-Vertreter. Doch der darf keine Erklärung abgeben.

Sie ist wieder da. Auch am zweiten Prozesstag lässt sich die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. (96) mit dem Rollstuhl in das Landgericht Itzehoe bringen – diesmal verbirgt sie ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille, die sie zu Prozessbeginn dann abnimmt. Mütze, Anorak und Schal sind farblich perfekt aufeinander abgestimmt.

Und die wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagte Quickbornerin wird gleich Zeugin einer Konfrontation zwischen Gericht und den Nebenklagevertretern, die die Opfer und ihre Hinterbliebenen vertreten. So wollte es Anwalt Onur Özata dem Verteidiger Wolf Molkentin gleichtun, der vorige Woche ein Eröffnungsstatement zum Prozess abgeben durfte. Die Kammer um den Vorsitzenden Richter Dominik Groß lehnte ab, weil dies laut der Strafprozessordnung nur dem Verteidiger als Replik auf die Anklageschrift zustehen würde.

Stutthof-Prozess: Opferanwalt greift Richter an

„Sie wollen die Nebenklage mundtot machen und degradieren uns zu Statisten“, hielt Özata dem Richter vor. Und Nebenklagevertreter Christoph Rückel bat die Kammer, das Verfahren zu einem „Kommunikations- und nicht einem Konfrontationsmodell“ zu machen. „Wer der Nebenklage das Wort abschneidet, schneidet es den Opfern ab.“ Ähnlich sah es Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler: „Es geht meinen Mandanten nicht darum, dass Frau F. ins Gefängnis kommt. Sie wollen Zeugnis ablegen, sie wollen gehört werden.“

Bis die Nebenkläger selbst zu Wort kommen, werden noch Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Die Kammer hat bisher zwar Verhandlungstermine bis in den Juni 2022 anberaumt, jedoch noch keine Terminabsprachen mit den noch lebenden KZ-Opfern und Hinterbliebenen getroffen.

KZ Stutthof: Ex-Sekretärin äußert sich nicht selbst

Stattdessen will das Gericht zunächst den Historiker Stefan Hördler (44) von der Universität Göttingen hören, der am Dienstag erstmals zu Wort kam. Weil aufgrund des hohen Alters und des Gesundheitszustands der Angeklagten nur zwei Stunden pro Prozesstag verhandelt werden kann, besetzt der Sachverständige – sein Gutachten ist ein wesentlicher Teil der Anklageschrift – gleich mehrere Termine in Folge.

Hördler, dessen Forschungsschwerpunkt seit mehr als zwei Jahrzehnten das KZ Stutthof ist, gab zu Beginn einen Einblick in die innere Struktur des Vernichtungslagers, das im September 1939 ins Leben gerufen worden war. Den Status als Konzentrationslager erhielt Stutthof, wo bis Kriegsende 65.000 Gefangene starben, im Januar 1942. In der dortigen Lagerkommandantur war Irmgard F. von Juni 1943 bis April 1945 als Stenotypistin eingesetzt. Weil sie durch ihre Tätigkeit zum Funktionieren des Lagers beigetragen hat, wirft ihr die Anklage Beihilfe zum Mord in 11.380 Fällen vor.

Irmgard F. machte in früheren Verfahren Angaben

Was genau die zu Beginn ihrer Tätigkeit 18-jährige Angeklagte in Stutthof gemacht hat, darüber will Hördler am nächsten Prozesstag am 9. November berichten. Er hat dazu in dem Gutachten Angaben genutzt, die Irmgard F. selbst als Zeugin in früheren Verfahren gegen Lagerverantwortliche gemacht hat. Damit diese Aussagen in dem Verfahren verwertet werden dürfen, ist eine Zustimmung der Angeklagten erforderlich. Verteidiger Molkentin hat dies noch nicht entschieden. Bisher hat sich Irmgard F. selbst nicht geäußert.