Ministerpräsident a. D., aber beliebt wie eh und je: Treffen mit Peter Harry Carstensen zu einem Gespräch in seinem Ruhesitz.
„Kein Netz“ meldet das Handy, als sich das hölzerne Tor öffnet und wir auf den mit Kies bestreuten Hof des Ex-Ministerpräsidenten fahren. Kein Netz? Das ist natürlich Unfug. Peter Harry Carstensen, von 2005 bis 2012 Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, hat immer Netz – das Netz der CDU. Ja, vor sechs Jahren hat er als CDU-Landesvorsitzender aufgehört, vor vier Jahren als Ministerpräsident. Aber auf Landesparteitagen taucht er regelmäßig auf, und der Beifall, mit dem er empfangen wird, ist regelmäßig groß.
Die Partei liebt ihn. Und er hat der Partei viel zu verdanken. 22 Jahre lang war er CDU-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Nordfriesland. Die CDU hat ihn aufgestellt, die CDU hat mit ihm und für ihn Wahlkampf gemacht.
Für die Christdemokraten im Norden ist Carstensen, kurz Peter Harry genannt, immer noch eine Identifikationsfigur. Keiner seiner Nachfolger im Amt des Landesvorsitzenden hat ihm diesen Rang streitig machen können. Christian von Bötticher nicht, Jost de Jager nicht, Reimer Böge nicht. Jetzt versucht es Ingbert Liebing, der auch Spitzenkandidat für die Landtagswahl im kommenden Mai ist. Der vierte CDU-Chef in sechs Jahren: Alle wissen, dass dies ein Problem ist. Peter Harry weiß es auch. Der passionierte Jäger lebt in einem Reetdachhaus im Wald. Geweihe zieren die Eingangsfront. Ein hübsches Grundstück auf einer Lichtung. Carstensens Jagd ist 500 Hektar groß – winzig klein, wenn man es mit seinem in Jahrzehnten geknüpften Netz vergleicht.
Haben Sie es in den letzten Jahren mal bedauert, als Landesvorsitzender aufgehört zu haben?
Peter Harry Carstensen: Angela Merkel hat mir ja damals im Fell gesessen, dass ich weitermachen soll. Aber nein: Ich habe es nicht bedauert. Zu meiner Freiheit gehörte es immer, selbst entscheiden zu können, wann ich womit aufhöre. Ich habe im Moment ein bisschen gesundheitliche Probleme und hätte jetzt Schwierigkeiten, das Amt auszufüllen. Ich habe das damals nicht gewusst, dass es so kommen würde. Aber ich hatte auch das Gefühl: Ich habe meinem Land genug gedient.
Der Landes-CDU hat Ihr Rücktritt nicht richtig gut getan. Parteiintern gab es zuletzt Kritik am Spitzenkandidaten Ingbert Liebing.
Hauptsache ist doch, dass es nach vorn geht. Und das tut es jetzt. Ich erinnere mich, dass das Abendblatt vor der Landtagswahl 2005 geschrieben hat, es gebe in der CDU Putschversuche gegen den Spitzenkandidaten Carstensen. Ich habe damals eine viel schlimmere Situation gehabt als Ingbert Liebing jetzt. Ich hatte damals mit Heide Simonis auch eine schwierigere Gegenkandidatin. Einen Vergleich zwischen Simonis und Torsten Albig würde Simonis haushoch gewinnen. Ingbert Liebing macht das jedenfalls spitzenmäßig. Er hat noch fast ein Jahr Zeit bis zur Wahl, ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Aber das ist ja für euch Journalisten zum Schreiben nicht unbedingt spannend, das verstehe ich schon (lacht).
Ich glaube, dass es innerhalb der CDU tatsächlich Widerstand gegen Liebing gibt.
Ich widerspreche ja gar nicht. So etwas gibt es in jeder Partei. Dasselbe finden Sie auch bei der SPD.
Können Sie Liebing im Wahlkampf helfen?
Wir haben uns erst unlängst getroffen. Ich bin so eine Art unterstützender Berater. Ich sage ihm schon, wo wir mehr machen müssen. Wir müssen mehr zu den Menschen hin. Das ist natürlich nicht so einfach für einen, der Bundestagsabgeordneter in Berlin ist. Aber das geht. Habe ich damals auch gemacht. Ich gehe heute noch als Ex-Ministerpräsident zu Gildefesten und anderen Veranstaltungen. Da kommt man in Kontakt mit den Menschen. Die Leute wollen einen begreifen. Ein schönes Wort, dieses Begreifen. Das geht nicht, wenn man Abstand hält. Da muss man den Menschen schon nahekommen. Nur dann können sie dich begreifen. Vor der Landtagswahl im Februar 2005 habe ich jeden Weihnachtsmarkt in Schleswig-Holstein besucht. Über Glühwein könnte ich ein Buch schreiben (lacht).
Wo schmeckt er am besten?
Ich kann Ihnen sagen, wo er am schlechtesten schmeckt (lacht). Aber egal: In diesen vorpolitischen Raum müssen wir wieder hineinkommen. Wir müssen den Leuten das Gefühl geben: Jawoll, die kümmern sich. Und wenn das nur um einen kleinen Stein geht, der im Schuh drückt. Das ist auch Aufgabe der Abgeordneten. Da würde ich gern viel mehr erleben.
Der Ex-Ministerpräsident ist unkompliziert. Er bedauert, dass es gerade geregnet hat. „Ich wollte mit euch draußen sitzen.“ Nun ist alles nass. Also doch ins behagliche Wohnzimmer. Ehefrau Sandra ist nicht da. Sie arbeitet als Personalleiterin am Flughafen Hamburg. Carstensen setzt sich in einen der braunroten Ledersessel in der Sofaecke und steckt sich eine Pfeife an. Es riecht gut. „Gießt euch Kaffee ein, sonst muss ich das nachher alles alleine trinken“, sagt er. Es gibt einen Kamin, einen Tisch mit Spirituosen, einen Fernsehsessel mit Beistelltisch für weitere Pfeifen. Die Vorhänge: Blumen auf hellem Grund. Draußen zieht ein Rasenroboter seine Kreise. Zwei Hunde warten darauf, ihren geräumigen Zwinger verlassen zu dürfen: Lawrenz und Diego, der Rauhaardackel und der Chesapeake Bay Retriever.
Brexit, Donald Trump, AfD – viele politische Beobachter sind in Sorge, dass der Populismus überhand nehmen könnte. Sie auch?
Man muss schon ehrlich sagen, dass wir in der Politik alle ein bisschen populistisch sind. Aber die AfD macht Stammtischpopulismus. Es ist erschreckend, mit welchen Behauptungen da gearbeitet wird. Wir müssen uns davor hüten, die Leute zu verdammen, die die AfD gut finden. Aber wir müssen an den Stammtischen auch mal Kontra geben, wir dürfen nicht denen das Feld überlassen, die sich als national bezeichnen. Ich fühle mich als Konservativer, ich bin in gutem Sinne national gesinnt. Ich freue mich, wenn die Fußballnationalmannschaft gewinnt.
Bei der AfD freut man sich nicht, weil denen die Nationalmannschaft nicht national genug ist...
Das ist deren Problem. Ich könnte Boateng gut als Nachbarn haben, das wäre spitzenmäßig. Ich finde, er ist einer der besten Spieler in der Mannschaft. Sehen Sie, Schleswig-Holstein ist ein Brückenland. Wir sind hier weltoffen und heimatverbunden. Ich war gerade bei einem Freund auf Föhr bei einer Familienfeier. Wir waren vielleicht so 20 Leute. An dem Abend wurde neben Hochdeutsch auch Plattdeutsch, Friesisch, Schwedisch, Dänisch, Russisch, Französisch und Englisch gesprochen. Ich finde das toll.
Hat Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik der AfD geholfen?
Schleswig-Holstein hat von den Flüchtlingen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen sind, letztendlich sehr profitiert. Wir hatten damals etwa 1,4 Millionen Einwohner und 1,6 Millionen Flüchtlinge. Das haben wir geschafft. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in zehn oder 15 Jahren sagen werden: Das hat die Merkel damals gut gemacht. Wir müssen langfristiger denken. Wir schaukeln uns in der Politik manchmal zu übereilten Entscheidungen hoch. Ich sage: gemach, gemach. An Angela Merkel schätze ich, was Helmut Kohl noch besser konnte: Sie neigt nicht zu Aktionismus. Da werden einige Dinge bei Bedarf auch mal ausgesessen.
Können die Engländer den Brexit denn einfach aussitzen?
Nein, das geht nun nicht. Zwar begreifen nun plötzlich viele, dass die Entscheidung falsch war. Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang. Aber das Ergebnis eines Referendums lässt sich nicht zurückdrehen. Auch nicht vom Parlament. Ein Abgeordneter, der gegen den Brexit stimmt, kann sich in seinem Wahlkreis nicht mehr sehen lassen. Ich frage mich nur, ob Englisch noch EU-Amtssprache bleiben kann, wenn die Engländer ausgestiegen sind. Ich glaube, Englisch muss dann auch weg (lacht).
Den Milchbauern geht es gerade schlecht. Woran liegt das?
Uns fehlt es an der Wertschätzung für Lebensmittel und für die Arbeit der Bauern. Anfang der 50er-Jahre lebten 2,2 Milliarden Menschen auf der Erde, und etwa eine Milliarde Menschen hungerte. Heute haben wir 7,5 Milliarden Menschen, und weniger als eine Milliarde hungert. Die Landwirtschaft macht fünf Milliarden Menschen mehr satt. Das ist eine irre Leistung. Für uns in Deutschland ist es mittlerweile selbstverständlich geworden, satt zu sein. Und das für immer weniger Geld. Wir geben nur noch zehn Prozent unseres durchschnittlichen Einkommens für Nahrungsmittel aus. Wir können Suppenhühner für so wenig Geld kaufen, dass es nicht zu fassen ist. Das hat uns unsere Landwirtschaft ermöglicht.
Wie kann man den Milchbauern helfen?
Wenn ein Landwirt sagt, ich bin freier Bauer auf freier Scholle, dann wird er das mitmachen müssen. Das ist schwer zu beantworten. Landwirte sind Unternehmer und müssen mit Preisschwankungen leben und sie akzeptieren. Wir kennen das ja auch vom Schweinepreis, der in Zyklen schwankt. Aber wenn Lebensmittel billiger werden, führt das leider nicht dazu, dass mehr gekauft wird. Wenn du satt bist, bist du satt. Wenn die Kohlproduktion in Dithmarschen etwas über dem Bedarf liegt, geht der Preis rapide runter. Vielleicht brauchen wir beim Milchpreis staatliche Maßnahmen. Vielleicht beruhigt sich der Markt auch von selbst.
Das Gespräch ist beendet. Zwei Stunden haben wir gesprochen, viel länger als geplant. Carstensens Erinnerungen sind frisch, er erzählt mit einem fast jugendlichen Staunen. Er hat den Papst getroffen, er hat viele Regierungschefs und manche gekrönten Häupter getroffen. Wenn das sein Vater noch erlebt hätte... Aufschreiben will er seine Erinnerungen nicht. Viele Bücher von ausgedienten Politikern würden sich wie eine Abrechnung lesen, findet er. Das mag er nicht. Aber er lässt sich immer noch gern einladen von Gilden und Feuerwehren, von Vereinen und Vereinigungen in seinem Schleswig-Holstein. Und dann erzählt er. Dass er in diese Erzählungen auch gern mal eine Spitze gegen die SPD einstreut, ist vielleicht nur ein Reflex vergangener Zeiten. Carstensen ist milder geworden. Draußen vor der Tür kommen wir auf die Jagd zu sprechen. Das Schießen, das Erlegen des Wildes seien ihm nicht mehr so wichtig, sagt er. Aber das Beobachten: Das sei tiefe Erholung. Carstensen geht zum Zwinger und lässt die Jagdhunde frei. Sie dürfen mit aufs Foto. „Sitz“, sagt er. Diego und Lawrenz gehorchen aufs Wort.