Wo einst in Salzau der Adel residierte, leben jetzt 320 Flüchtlinge. Die 36 Dorfbewohner beobachten die neuen Nachbarn aus der Distanz.
Wenn die Dorfbewohner von Salzau morgens vor die Tür treten, dann richtet sich ihr Blick für gewöhnlich gen Himmel. Die Fragen an den Tag lauten: Wie wird das Wetter heute? Haben es die Landwirte geschafft, vor dem Regen die Ernte einzufahren? Ziehen die Gänse schon gen Süden?
Seit dem 26. September ist das anders. Die Augen blicken mit dem Schritt vor die Tür rüber zum Herrenhaus. Alles ruhig? Wie viele Menschen werden noch einziehen? Woher kommen die? Und was machen die eigentlich den ganzen Tag?
Salzau, ein Ortsteil der Gemeinde Fargau-Pratjau im schleswig-holsteinischen Kreis Plön, wäre kaum jemandem ein Begriff, gäbe es da nicht das 1881 von Otto von Blome errichtete Herrenhaus, im Volksmund Schloss Salzau genannt. Über viele Jahre war es Herzstück der Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musik Festivals und Heimat des internationalen Jazz-Festivals JazzBaltica. Nachdem das Land die Kulturstätte inklusive Hotelbetrieb 2011 geschlossen hatte, lag das Anwesen brach – bis zur letzten Septemberwoche.
Flüchtlinge sind in Salzau jetzt Schlossherren
Über Nacht beschloss das Land, das Herrenhaus in dem 36-Seelen-Dorf als Flüchtlingsunterkunft mit 320 Betten herzurichten. Zwei Tage später zogen die ersten Menschen aus Afghanistan, Albanien, Armenien, Eritrea, Irak, Iran, Jemen, Kosovo, Serbien und Syrien ein. Der Monumentalbau ist jetzt eine sogenannte Folgeunterkunft. Die Flüchtlinge kommen aus den Erstaufnahmeeinrichtungen hierher. Um sie kümmern sich 20 ehrenamtliche Helfer des Deutschen Roten Kreuzes, Kreisverband Plöner Land. Tagsüber sind zwei Polizeibeamte vor Ort. Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes bewachen die Anlage rund um die Uhr. Der Weg ins Schloss führt über eine Freitreppe. Von der Eingangshalle aus geht es in das DRK-Büro und zur Polizeiwache. Parterre liegen auch die Schlafsäle, insbesondere die für die alleinreisenden Männer. Geschlafen wird hier unter Stuck und Kronleuchtern.
Salzau ist als Flüchtlingsunterkunft wohl einmalig
Das größte Herrenhaus Schleswig-Holsteins ist als Flüchtlingsunterkunft wohl einmalig. „Eigentlich zu groß für die Anzahl von Menschen“, sagt Christian Pagel, ehrenamtlicher DRK-Vorsitzender im Plöner Land. Andererseits optimal, weil sich die Menschen auch mal aus dem Weg gehen können. Das trägt zur Entspannung bei.
Die Raumhöhe von sechs bis acht Metern ist beeindruckend. Das Lachen spielender Kinder hallt durchs Haus. Sie laufen auf den mit rotem Teppich belegten Parkettböden hin und her, hüpfen die steinernen Treppen rauf und runter. Die übergroßen in Gold gerahmten Gemälde von adeligen Persönlichkeiten nehmen die Kleinen allerdings kaum wahr. Auch nicht die historischen Kachelöfen in den Zimmern, an denen sich einst Grafen und Barone wärmten.
Bei den Erwachsenen ist das anders. „Very good“, sagt Mohamed. „I love that. It’s history.“ Über die Geschichte des Hauses würde der 18-jährige Geologiestudent aus Aleppo in Syrien gern mehr erfahren. „But nobody tells me“, sagt er. Niemand hat sie ihm bisher erzählt.
Nahla begrüßt die Gäste im Herrenhaus mit einem frischen "Moin"
Die neuen Bewohner des Herrenhauses freuen sich über den Besuch am Morgen. Sie lächeln, einige rufen „Hello“ durch die hohe Eingangshalle. „Moin“, sagt ein kleines Mädchen in frisch gelerntem Norddeutsch. Es tippt mit dem Finger auf sich, sagt „Nahla“ und winkt die Gäste hinter sich her: „Come.“ Nahla ist neun Jahre alt und mit ihren Eltern und Geschwistern aus Syrien geflohen. Als Familie sind sie in einem Zimmer in der ersten Etage untergebracht.
Mohamed lebt mit 17 anderen syrischen Männern in einem der 60 hergerichteten und mit Stockbetten ausgestatteten Räume. Er ist vor fünf Wochen allein nach Deutschland und über Neumünster nach Salzau gekommen. „We have plenty of room“, sagt Mohamed. „Wir haben viel Platz.“
Plötzlich wurden Zäune ums Herrenhaus herum aufgestellt
Die Vorteile des Herrenhauses als Flüchtlingsunterkunft liegen auf der Hand. „Dank der Weitläufigkeit der Immobilie können wir Rücksicht auf Familien nehmen“, sagt DRK-Mann Christian Pagel. „Wir sind zudem in der komfortablen Lage, allein reisenden Frauen ein Nebengebäude zur Verfügung zu stellen.“ Zum Anwesen gehört eine Parkanlage. „We can walk around“, sagt Mohamed. Wir können spazieren gehen. Und: „People in the village are very nice“. Die Leute im Dorf sind sehr nett.
Zum echten Nettsein sind die Salzauer noch nicht gekommen. Dazu fühlen sie sich zu überrumpelt. Einen Tag vor Einzug der ersten Flüchtlinge seien sie in einer Einwohnerversammlung informiert worden, dass sich Salzau von heute auf morgen um 320 Einwohner vergrößern werde, erzählt eine Dorfbewohnerin. Plötzlich seien rund ums Herrenhaus Zäune aufgestellt worden. „Wo wir sonst spazieren gegangen sind, wird uns jetzt der Zutritt verwehrt.“ Überall liefen fremde Menschen herum. Über Nacht habe sich die Einwohnerzahl nahezu verzehnfacht. Übertragen auf Hamburg bedeute das: Die Stadt würde von heute auf morgen von 1,8 Millionen Einwohner auf 16 Millionen wachsen. „Die Stadt würde doch explodieren, oder?“, fragt eine alteingesessene Salzauerin.
Die Einwohnerzahl hat sich über Nacht nahezu verzehnfacht
Die Salzauer haben sich zurückgezogen und verharren in Beobachtung. „Sie gucken sich das mit großer Spannung an“, sagt Christian Pagel. „Aus sicherer Entfernung.“
So auch die Nachkommen der ehemaligen Eigentümer von Schloss Salzau. Das Kavaliershaus, in dem das Ehepaar Anna und Romedio von Thun-Hohenstein heute wohnt, blieb in Familienbesitz. Es steht vielleicht 20 Meter vom Schloss entfernt. Der Garten ging bislang in den Schlosspark über. Seit zwei Wochen ist das Grundstück der Familie von Thun nun durch einen zwei Meter hohen Metallgitterzaun vom Park abgetrennt.
Anna Gräfin von Thun-Hohenstein spricht aus, was die meisten Salzauer denken: „Ich versuche auszublenden, dass da plötzlich Zäune stehen und viele fremde Menschen herumlaufen.“ Dann schaut sie durch die Gitter. „Sie tun mir auch leid“, sagt Anna von Thun-Hohenstein. „Es gibt ja nichts für sie zu tun den ganzen Tag. Hier ist nichts außer Landschaft. Wir leben hier, weil wir die Einsamkeit lieben.“ Die Musiker seien über Jahre hergekommen, weil Salzau so abgelegen sei und sie nicht abgelenkt wurden. „Aber diese Menschen kriegen hier doch auf die Dauer einen Schlosskoller.“
Auf eigenwillige Art ähneln sich die Gedanken von Flüchtlingen und Dorfbewohnern
Auf eigenwillige Art ähneln sich die Gedanken der Gräfin und die des 16 Jahre alten Jungen aus Afghanistan auf der anderen Seite des Zaunes. Mehran spricht Deutsch. Sein Vater hat in Kabul für die Bundeswehr gearbeitet. Die Familie musste vor den Taliban flüchten. „Hier ist es sehr schön. Das Problem ist, wir haben hier nichts zu tun. Wir möchten wissen, was unsere Zukunft ist“, sagt Mehran.
Den DRK-Helfern ist bewusst, dass die feudale Unterkunft auch ihre Nachteile hat. „Wir wollen auf jeden Fall verhindern, dass Langeweile aufkommt“, sagt Christian Pagel. Eine Kinderbetreuung wird zur Zeit im ehemaligen Ballettsaal im Obergeschoss eingerichtet. „Wir organisieren Freizeitangebote, Fußballspiele, Bastelnachmittage, Back- und Kochkurse und auch Deutschunterricht.“ Unter den Flüchtlingen sei ein Gartenbau-Ingenieur aus Syrien. Pagel überlegt, ob er ihm ein Praktikum bei dem Gärtner vermitteln kann. Der Schlossgarten muss gepflegt werden.
Zudem würden den Flüchtlingen auch Verhaltensregeln für das Leben in der Mini-Gemeinde mit ihren 36 Einwohnern mitgegeben. „Wir wollen nicht riskieren, dass die Stimmung im Dorf kippt.“
Aus der Nachbarschaft kommen emotionale Nachfragen
Das kann passieren, wenn die neuen Nachbarn Grenzen überschreiten. Wie die Grenze zum Obstgarten einer Dorfbewohnerin, die in einem ehemaligen Gesindehaus lebt. „Unsere Grundstücke waren niemals eingezäunt. Dann schauen Sie aus dem Fenster und da sind plötzlich fremde Leute in Ihrem Garten und pflücken die unreifen Äpfel von Ihren Bäumen.“
„Wir müssen verantwortungsvoll mit dem Dorf umgehen“, sagt Pagel. Aus der direkten Nachbarschaft kämen viele emotionale Nachfragen, Abwehrreaktionen registriere er bisher nicht.
Die Geschichte des Herrenhauses Salzau
Es ist nicht das erste Mal, dass Flüchtlinge in Schloss Salzau wohnen. 1945 zogen dort schon einmal Fremde ein. Damals war das Schloss gerade in Erbfolge in den Besitz der Grafen Thun und Hohenstein übergegangen. 300 Vertriebene aus Pommern, Ostpreußen und Schlesien lebten in den herrschaftlichen Suiten. Die letzten verließen das Herrenhaus am Selenter See 1955.
Wie lange die Flüchtlinge diesmal im Schloss bleiben werden, weiß niemand so genau. Bis vor einigen Monaten war es so, dass Flüchtlinge nur wenige Wochen in einer Folgeunterkunft lebten und dann in die Kommunen in Wohnungen vermittelt wurden. „Das ist angesichts der vielen Menschen, die jetzt zu uns kommen, so nicht mehr hinzukriegen“, sagt Pagel. Er geht davon aus, dass die Männer, Frauen und Kinder aus zehn Nationen den Winter über in Salzau bleiben. Oder länger.
Ausgerechnet die in diesen Tagen in Schleswig-Holstein beginnende Hauptjagdsaison könnte das Dorf mit seinen neuen Nachbarn zusammenführen. Die teils traumatisierten Kriegsflüchtlinge werden die Schüsse in dem Revier um das Gut herum womöglich als lebensbedrohlich empfinden. Graf Thun schaut durch den Zaun hinüber zum Herrenhaus. Er wird sich mit den Flüchtlingen zusammensetzen und ihnen erklären müssen, wann und warum es knallt. „Wir wollen sie auf keinen Fall erschrecken“.