Uetersen. Wie ein gefällter, riesiger Baum liegt das backsteinerne Relikt im Wald. Doch warum? Die Antwort auf dieses „Pinneberger Geheimnis“.

Für die Kinder ist es Abenteuer pur. Krabbeln und Spielen auf den Trümmern aus Mauersteinen, manche trauen sich auch, durch die enge Röhre der alten Esse zu kriechen. Beim Spaziergang mit den Eltern im weitläufigen Parkgelände Langes Tannen in Uetersen ist ein Besuch des zerbrochenen alten Fabrikschornsteins für die Jüngsten der Höhepunkt.

Für die einen ist er Abenteuerspielplatz, für die anderen ein Gemäuer mit Geschichte. Unter den prächtigen Gebäuden der öffentlichen Parkanlage führt der alte Schlot zwar ein Schattendasein, ist bei Freunden sogenannter „Lost Places“, also vergessener Orte, aber wohlbekannt. So gab ihm das Virtuelle Museum der Toten Orte (Vimudeap), eine Online Bild- und Objektdatenbank unter dem Dach der Bundesstiftung Baukultur, den schönen Namen „Der Schlafende Schornstein“: „Er liegt dort jetzt wie ein gefällter Baum und verbindet auf wunderbare Weise Industriearchitektur mit der Natur“, heißt es in der Beschreibung.

Vor 25 Jahren zum Kulturdenkmal erhoben

Vor genau 25 Jahren stuften die hiesigen Denkmalpfleger den steinernen Zeitzeugen mit den anderen Gebäuden als Kulturdenkmal ein. Es handelt sich um die Überreste des Schornsteins der alten Langeschen Dampfmühle, erbaut im Jahr 1840.

In mehrere Teile zerbrochen und teils eingesunken liegt er auf der Seite – und dürfte damit zusätzlich eine der letzten Ruinen aus der Kriegszeit in der Region sein. Denn der einst etwa 28 Meter hohe Schlot wurde 1943 gesprengt, um zu verhindern, dass er im Zweiten Weltkrieg von feindlichen Flugzeugen als Landmarke zur Orientierung genutzt werden könnte.

Im Mühlenstumpf von Langes Tannen gibt es Kaffee und Kuchen.
Im Mühlenstumpf von Langes Tannen gibt es Kaffee und Kuchen. © Augener | Manfred Augener

Wer genau den Schornstein gesprengt hat, ist nicht überliefert. Im Laufe der Jahrzehnte seien wohl schon diverse kleinere Bruchstücke verschwunden oder wurden abtransportiert, möglicherweise an anderer Stelle vermauert, sagt Ute Harms, die Leiterin des Museums Langes Tannen. Die Kulturhistorikerin hat die Geschichte der Langeschen Dampfmühle aufbereitet.

So war für das Aufblühen des Unternehmens der Familie Lange der Bau einer Dampfmühle von entscheidender Bedeutung. Mit dem neuartigen Dampfantrieb konnten weitaus höhere sogenannte Vermahlungsleistungen erzielt werden als mit der natürlichen Kraft des Windes. Johann Peter Lange (1797-1854), der die Mühle 1824 von seinem Vater übernommen hatte, musste damals für das Aufstellen der Dampfmaschine eine Konzession des dänischen Königs einholen.

Die Inbetriebnahme ist vermutlich 1844 erfolgt. Mit der Anlegung der Dampfmühle war der Langesche Mühlenbetrieb einer der ersten in Schleswig-Holstein, der sich die neue Technik zunutze machte. Die neuartige Dampfmühle wurde 1840 direkt angrenzend an die alte reetgedeckte Windmühle gebaut. Um Funkenflug und Geruchsbelästigung zu vermeiden, schreibt Vimudeap, sei der 28 Meter hohe Schornstein im angrenzenden Wald errichtet und über einen „150 Meter langen Dampfkanal“ mit der Dampfmühle verbunden worden.

Das Innere des Schlots.
Das Innere des Schlots. © Augener | Manfred Augener

Den Tunnel erwähnt auch der Autor Johannes Nienburg in einem Beitrag über Uetersener Mühlen im Jahrbuch des Kreises Pinneberg für das Jahr 1994. Dort ist zudem ein altes Foto der Dampfmühle samt Windmühle und Schornstein im Hintergrund abgebildet. Es existieren nur wenige Fotos aus der Zeit, bekannt sind einige teils kolorierte Zeichnungen – und ein Ölgemälde, das Auguste, eine künstlerisch talentierte Tochter von Peter August und Gesche Lange, um 1900 gemalt hat. Es ist offenbar ein Bild aus der Erinnerung, wie eine kleine Tafel neben dem im Herrenhaus hängenden Gemälde erklärt, da die Windmühle bereits im Februar 1889 abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden war.

Die Firma J. P. Lange Söhne orientierte sich 1874 in Richtung Altona, errichtete dort eine Korndampfmühle als Zweigniederlassung. Später wurde der neue Standort der Hauptsitz der Firma. In Altona betrieben die Langes einen der größten Mühlenbetriebe in Norddeutschland.

Die Uetersener Mühle wurde von einem Pächter weiter betrieben. Im Jahr 1903 wurde der Betrieb in Uetersen eingestellt, das Anwesen mit allen Gebäuden blieb jedoch im Besitz der Familie Lange. Der „schlafende Schornstein“ ist also letztes Zeugnis der Dampfmühlenära in Langes Tannen, und er bleibt ein spannender Abenteuerspielplatz für die Kinder.

Im Jahr 1979 vererbte Werner Lange der Stadt Uetersen sein gesamtes rund 250 Jahre altes und etwa 26 Hektar großes Anwesen „Neue Mühle“. Im selben Jahr wurde ihm die Ehrenbürgerwürde der Stadt Uetersen verliehen. Seine Stiftung war mit dem Wunsch verbunden, das historische Areal mit seinen Gebäuden zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und zwar als Museum sowie als Erholungsgebiet.

Brandstiftungen setzten dem Ensemble in letzter Zeit zu

Das erhaltene und unter Denkmalschutz stehende Gebäudeensemble besteht aus dem ehemaligen Wohnhaus der Familie (dem sogenannten Herrenhaus), dem gemauerten Unterteil der 1889 abgebrannten Windmühle sowie der nach altem Vorbild von 1762 wieder aufgebauten Scheune, die im Januar 1990 aufgrund von Brandstiftung ausbrannte und wieder aufgebaut wurde.

Dieses Bild mit Schornstein entstand um 1900.
Dieses Bild mit Schornstein entstand um 1900. © Augener | Manfred Augener

Im vorigen Jahr stand die Museumsscheune erneut in Flammen, und wiederum stellte sich heraus, dass Brandstiftung die Ursache des Feuers war. Sie wird nun einmal mehr aufgebaut. Zu dem unter Denkmalschutz stehenden Gebäudeensemble gehört selbstverständlich auch der umgestürzte Schornstein der alten Dampfmühle.

Bei Freunden von Kunst und Kultur und Ausflüglern gleichermaßen ist die Anlage weit über die Grenzen der Stadt beliebt. Hochkarätige Ausstellungen laden zum Besuch ein, Kaffee und Kuchen im Café Langes Mühle runden den Besuch ab. 1997 ist die Anlage als „einzigartiges Denkmalensemble der Landwirtschafts- und Industriegeschichte sowie der bürgerlichen Landhauskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ in das Denkmalbuch eingetragen worden.