Elmshorn. Jürgen Gebhardt aus Elmshorn errichtet Schlösser und Kirchen aus dem ältesten Systemspielzeug der Welt – wie Albert Einstein.
Vorsichtig richtet Jürgen Gebhardt das Kreuz auf dem Dach der Kirche, dreht mit ruhigen Händen nochmals den Fahnenmast und blickt dann zufrieden auf sein Modell: der Dom zu Ribe. Im Maßstab eins zu 50 Zentimeter hat der Elmshorner die evangelisch-lutherische Bischhofskirche in Dänemark mit etwa 7.000 Ankersteinen innerhalb eines halben Jahres nachgebaut. 100 Kilo wiegt das imposante Bauwerk, das auf einem drehbaren Tisch in seinem Hobby-Zimmer steht.
Elmshorner baut imposante Gebäude aus Ankersteinen
Der Ankerfreund Jürgen Gebhardt ist wirklich fleißig. So hat er bereits den Uhrturm in Izmir nachbebaut, den Kaispeicher A, auf dem jetzt die Elbphilharmonie steht, das Glückstädter Rathaus oder auch die Elmshorner Nikolai-Kirche. Mit seinem Hobby reiht er sich in eine lange Liste derer ein, die Burgen, Paläste, Türme und Brücken aus den einzigartigen und mehrfach ausgezeichneten Steinen bauen. Unter ihnen sind etliche Dichter und Denker oder Politiker wie beispielsweise Erich Kästner, Albert Einstein und Altbundeskanzler Roman Herzog. Auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton oder Jürgen Trittin spielten in ihrer Kindheit mit den speziellen Steinen.
Bereits als Kind baute der heute 81-Jährige mit den Steinen, die in Baukästen verkauft werden – bis zur Pubertät. Vor knapp 30 Jahren findet er die Steine wieder – in einem „Schnickschnack-Laden in Uetersen“. Heute besitzt er etwa 30.000 Steine, übersichtlich in eigens dafür angefertigten Kommoden einsortiert. In seinem Fundus hat er sowohl alte als auch neue Baukästen.
Auf den ersten Blick sehen die Ankersteine aus wie gewöhnliche Bauklötze. Doch die Bauteile sind nicht aus Holz gefertigt, sonder nach einer alten Rezeptur aus Sand, Schlämmkreide und Leinöl gepresst und gebacken. „Sie werden in den drei Farben rot, gelb und blau hergestellt, entsprechend den drei Baumaterialien Ziegelstein, Sandstein und Schiefer für Dächer“, erklärt Gebhardt. Die Bausteine haben eine glatte Oberfläche, liegen schwer in der Hand und kommen ohne Noppen oder Verklebung aus. Das Zusammenhalten der Gebäude basiert allein auf der Statik, sodass selbst sehr große Bauwerke errichtet werden können.
Ankersteine gelten als erstes Systemspielzeug der Welt
Entwickelt wurden die Steine 1879 von den Luftfahrtpionieren Otto und Gustav Lilienthal, die sie zunächst auch selbst herstellten. Verdient haben die Brüder an den Bauklötzen jedoch so gut wie nichts, da sie als Unternehmer kein tragfähiges Marketingkonzept hatten. Hochverschuldet verkauften sie das Rezept für die Herstellung an den Unternehmer Friedrich Adolf Richter aus dem thüringischen Rudolstadt, der sofort ein Patent darauf anmeldete. Unter seinem Markenzeichen, dem Anker, eröffnete Richter Verkaufsfilialen von St. Petersburg bis New York. Das machte die Thüringer Ankerkästen zur Weltmarke.
Heute gelten sie als das erste Systemspielzeug der Welt. Künstler, Illustratoren und Architekten entwickelten Pläne und Bauvorlagen für die Baukästen. Es entstand eine ausgeklügeltes Erweiterungs- und Ergänzungssystem, das es erlaubte, die Kästen beliebig zu kombinieren.
Auch Jürgen Gebhardt baute in der Anfangszeit noch mit den mitgelieferten Bauvorlagen. Es war dann das Schloss Tremsbüttel im Kreis Stormarn, das ihn so faszinierte und ihn schließlich animierte, dieses Bauwerk aus dem Jahr 1895 anhand von eigenen Fotos und Informationen nachzubauen. „Das war gar nicht so schwer, wie ich dachte, denn viele wichtige Informationen wie beispielsweise Größe oder Höhe kann man ja mittlerweile im Internet finden“, erklärt Gebhardt. Oft sei es auch leicht, an die Grundrisse der Gebäude heranzukommen. „Bevor ich die Elmshorner St. Nikolai-Kirche baute, habe ich in der Kirche angerufen und schon ein paar Tage später hatte ich alle Unterlagen.“
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Elmshorner erschafft Modelle historischer Gebäude
Für Gerhardt wurden die Ankersteine bald mehr als nur ein abwechslungsreiches Hobby. Als seine Ehefrau vor 25 Jahren das erste Mal an Brustkrebs erkrankte, verschaffte das Bauen ihm in seinem Hobbyraum Ablenkung. Nach dem Tod seiner Frau vor drei Jahren verlor der Witwer eine ganze Weile die Lust, sich mit den Steinen zu beschäftigen. Vor etwa einem halben Jahr fing er dann wieder an, Stein auf Stein zu setzen, bis der fünfschiffige Kirchenbau aus Ribe Anfang Juli fertig war. „Früher ging es schneller, aber jetzt muss ich mich ja auch noch um den Haushalt kümmern.“
Welchem Gebäude sich Gebhardt demnächst widmen wird, „steht noch nicht fest“. Dann holt er einen prall gefüllten Ordner hervor. Er sei mit seiner Ehefrau viel herumgekommen, habe viele schöne Reisen und Fotos gemacht. Aber auch im Internet seien bemerkenswerte „Ankerbauten“ zu finden – so bezeichneten Gebhardt und seine Ehefrau die Gebäude, die es ihrer Meinung nach wert wären, als Miniaturausgabe das Haus zu schmücken.
Elmshorner plant weitere Projekte mit den Ankerbausteinen
Der Ankerfreund liebäugelt momentan mit dem Nachbau der Basilika Ta’Pinu. Die Kirche ist Heiligtum auf der Insel Gozo in Malta und im neoromanischen Stil erbaut, beinhaltet im Innenraum sechs Mosaike, Fenster in 76 Farben und zahlreiche Votivgaben. Der Glockenturm hat eine Höhe von 61 Metern. „Das ist schon eine Herausforderung“, freut sich der Hobby-Baumeister.
Zwei Weltkriege haben die Ankersteine unbeschadet überstanden, doch 1963 verfügte ein Beschluss der DDR-Führung die Einstellung der Produktion. Die Firma VEB Anker-Steinbaukasten wurde aufgelöst, die Produktionsanlagen anderweitig vergeben. Das traditionsreiche Spielzeug verschwand aus den Ladenregalen, nicht jedoch aus den Köpfen seiner Fans. 1995 gelang es, die Produktion der Steine wiederzubeleben. Heute werden die Baukästen in einer Manufaktur hergestellt, die von der Rudolstädter Arbeiterwohlfahrt betrieben wird.