Elmshorn. Der Elmshorner MTV hat seit einem Monat eine Rehagruppe für Long-Covid-Erkrankte. Warum sich viele Betroffene nicht um Hilfe bemühen

Die Zahlen sind ernüchternd wie auch besorgniserregend: Laut einer aktuellen Veröffentlichung derBetroffenen-Initiative „Long Covid Deutschland“ entwickeln bis zu 60 Prozent der am Coronavirus erkrankten und stationär in Krankenhäusern aufgenommenen Personen „anhaltende oder neu auftretende Beschwerden“ für einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten.

Selbst bei schwachem Krankheitsverlauf ist die Chance hoch, Long-Covid zu bekommen

Und selbst rund 10 Prozent der nichthospitalisierten SARS-CoV-2-Infizierten bekommen es nach mildem oder moderatem Krankheitsverlauf mit Problemen zu tun, die länger als vier Monate anhalten. Symptome wie Erschöpfung und reduzierte Belastbarkeit, neuro-kognitive Störungen wie verminderte Konzentrationsfähigkeit, Atemnot oder Schlafstörungen sind nur einige Beispiele für die enorme Bandbreite der möglichen Beeinträchtigungen nach überstandener Corona-Infektion.

„Long-Covid ist ein Thema, das uns noch lange begleiten wird, aber noch bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit genießt, die es angesichts seiner Tragweite haben müsste“, sagt Uwe Altemeier, stellvertretender Vereinsvorsitzender des Elmshorner MTV. Ein Grund dafür, weshalb der mitgliederstärkste Breitensportverein im Kreis Pinneberg seit nun einem Monat eine spezielle Gruppe „Reha-Sport bei Long-Covid“ anbietet.

Die Coronaerkrankung eigener Mitglieder ist Anstoß zur Einrichtung der Gruppe

„Wir haben bei uns im Verein Mitglieder mit durchlaufener Covid-Erkrankung und haben dann überlegt, weil wir ja bereits ein Angebot im Herz- und Lungensport haben, in die Richtung Covid und seine Spätfolgen zu gehen. Zumal in den Medien zu erfahren war, dass in diesem Bereich eine große Lücke ist, die gefüllt werden möchte“, sagt Nicole Karl, Trainerin im Vie Vitale, dem Fitness- und Gesundheitsstudio des EMTV.

In Deutschland ist mit über 400.000 Long-Covid-Patienten zu rechnen

Zur Bedarfslage hat Uwe Altemeier weitere beeindruckende Zahlen zur Hand: „Wir haben zurzeit 4,55 Millionen mit Covid erkrankte oder genesene Personen in Deutschland; und ganz seriöse internationale Schätzungen gehen von zehn Prozent der Erkrankten aus, die später ein Long- oder Post-Covid-Syndrom aufweisen werden“, sagt Altemeier. „Das heißt für uns in Deutschland, dass wir 400.000 bis 450.000 Patienten mit diesem Krankheitsbild haben werden.“

Coronainfizierte fühlen sich durch ihre Erkrankung stigmatisiert

Als wäre diese hohe Zahl nicht schon genug Grund zur Sorge, gibt es ein weiteres gravierendes Problem: „Man kann diese Erkrankten nicht ohne weiteres identifizieren; die Betroffenen müssen sich melden, müssen sagen, dass sie Covid überstanden haben, genesen sind und nun nicht zufrieden sind mit ihrem Gesundheitszustand“, sagt Altemeier. „Und da gibt es eine Hemmschwelle. Wir hören immer wieder, dass sich viele gebrandmarkt, stigmatisiert fühlen, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Da haben wir ein gesellschaftliches Problem.“

Bis zu 76 Prozent der Covid-Genesenen weisen nach einem halben Jahr ein Symptom auf

Eine Zurückhaltung, die angesichts der Problemlage fatal werden könnte. „Wir hatten eine Fortbildung mit einem Schmerztherapeuten. Eine Erkenntnis war daraus, dass bis zu 76 Prozent der Covid-Genesenen auch nach einem halben Jahr noch mindestens ein Symptom aufweisen“, berichtet Nicole Karl. „Diese körperliche Schwäche und Leistungs­minderung sind nicht zu unterschätzen; das führt ganz schnell zu Depressionen, weil das ganze Leben plötzlich nicht mehr so funktioniert.“

Durch Covid ist das ganze System Mensch betroffen

Kein Wunder, weiß Uwe Altemeier: „Der ganze Körper ist durch Covid betroffen. Die einen haben respiratorische Probleme, haben eine stark reduzierte Lungenkapazität; andere sind in der kognitiven Leistungsfähigkeit eingeschränkt, besonders am Arbeitsplatz. Das ganze System Mensch als Körper-Seele-Einheit wird beeinträchtigt.“

Doch um aus diesem Tal wieder herauszukommen bedarf es der Erkenntnis, dass Long-Covid weit entfernt ist von einer „einfachen“ Krankheit, die wie ein grippaler Infekt zum Beispiel mit viel Ruhe und Schonung auskuriert wird.

Aus Long-Covid führt keine simple Erholung; der Weg muss aktiv gegangen werden

„Bisherige Vorgehensweisen greifen nicht“, sagt Nicole Karl. „Normalerweise erholst du dich, wenn du geschwächt bist. Aber bei Long Covid kommst du aus der Erholung nicht mehr raus. Die Leute sitzen zu Hause und ,erholen‘ sich, und es wird nicht besser; im Gegenteil. Der Weg aus Covid heraus ist ein aktiver Weg; nur über die Aktivität kommst du aus dem Loch, in dem du dich befindest.“

Uwe Altemeier kennt Studien aus den USA, die für das ganze Land allein wegen Long-Covid einen nationalen, medizinischen Notstand prognostizieren. Damit die Situation in Deutschland nicht in eine ähnliche Richtung gehe, müssten die Long-Covid-Betroffenen in ihr Leben zurückgeführt werden; auch durch das Sportangebot beim EMTV. „Optimal wäre, wenn der Hausarzt erkennt, dass sein Patient unter Long-Covid leidet und ihm eine Reha verschreibt“, so Altemeier.

Das Rehatraining soll Körper und Geist ansprechen

„Danach käme der Betroffene zu uns zu einem ersten Beratungsgespräch“, sagt Nicole Karl. „Wenn wir dann wissen, was mit dem Patienten geht und was nicht, ob zum Beispiel seine Erschöpfung chronisch ist, erstellen wir das für ihn maßgeschneiderte Trainingsprogramm, das ihn zwar fordert, aber nur vorsichtig an seine Grenzen führt. Wir wollen ein ganz breites Spektrum an Übungen fahren, die neben dem Körper auch den Geist bewegen und die Koordination schulen.“