Halstenbek. Hannah Kiesbye hat den „Schwer-in-Ordnung-“Ausweis erfunden, der inzwischen in neun Bundesländern Standard ist. Wie es dazu kam.

Hannah Kiesbye ist mit dem Downsyndrom zur Welt gekommen. Vor dem Gesetz gilt sie deshalb als schwerbehindert. Aber das gefällt ihr nicht, denn behindert oder gar schwerbehindert hat sich die 17-Jährige nie gefühlt. Sie leide nämlich nicht an einer Behinderung, sondern vielmehr an der Reaktion ihrer Mitmenschen, sagt sie. Punkt.

Das sitzt. Also hat sie mit dem Schwer-in-Ordnung-Ausweis eine Erfindung gemacht, die inzwischen in neun Bundesländern Standard in den Sozialbehörden ist. Morgen verleiht ihr Bundespräsident Frank Walter Steinmeier (SPD) in Berlin deshalb den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

Hannah schreibt – Geschichten und Gedichte

Hannah Kiesbye ist sprachlich sehr gewandt. „Lesen und Schreiben haben mir schon immer viel Spaß gemacht“, sagt sie. Sie schreibe viel, mal Geschichten, mal Gedichte. Und damit beginnt in der Schreibwerkstatt der 8. Klasse in der Pinneberger Schülerschule Waldenau auch die Geschichte ihres Ausweises.

Sie verfasst im Herbst 2017 einen Aufsatz, der einen Stein ins Rollen bringt. In ihrer Geschichte erzählt sie, dass sie den Schwerbehindertenausweis umbenennen möchte. „Ich finde, Schwerbehindertenausweis ist nicht der richtige Name für meinen Ausweis. Ich möchte lieber, dass der Schwer-in-Ordnung-Ausweis genannt wird“, schreibt sie. Weiter erzählt sie davon, wie sie ihren neuen Ausweis stolz dem Busfahrer vorzeigt oder zu Hause den Eltern präsentiert. Aus einem Dokument, das sie gefühlt ausgrenzt, wird in dieser Geschichte etwas, das sie stolz macht.

Ein junger Mann zeigt seine neue Hülle für seinen Schwerbehindertenausweis. Auf der Hülle ist
Ein junger Mann zeigt seine neue Hülle für seinen Schwerbehindertenausweis. Auf der Hülle ist "Schwer-in-Ordnung-Ausweis" zu lesen. Die Idee dazu stammt von der Halstenbekerin Hannah Kiesbye. © dpa | Britta Pedersen

Ein Beitrag in einer Zeitschrift macht die Idee bekannt

Gemeinsam mit ihrer Lehrerin und den Eltern entscheidet sie, ihre alternative Ausweis-Idee in die Tat umzusetzen – allerdings nur auf der Plastikhülle und nicht auf dem amtlichen Dokument selbst. Und so wird aus ihrem Schwerbehindertenausweis der deutschlandweit erste Schwer-in-Ordnung-Ausweis. Viele sollen folgen, doch bis dahin wird noch etwas Zeit vergehen.

Erst mal werden ihr Text und ein Foto von ihrem neuen Ausweis in der Zeitschrift „Kids Aktuell“ veröffentlicht, die vom Hamburger Kontakt- und Informationszentrum Downsyndrom herausgegeben wird. Ein Unterstützer teilt Kiesbyes Geschichte über Twitter. Ihr neuer Ausweis wird dadurch so schnell im Netz bekannt, dass im Herbst 2017 ein Junge beim Hamburger Versorgungsamt einen eigenen „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ beantragt.

"Schwer-in-Ordnung-Ausweis" auch in Hamburg erhältlich

Die Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) sagt ihm die Ausstellung des Schwer-in-Ordnung-Ausweises zu, wobei sie noch offenlässt, in welcher Form das möglich sein werde. Im Dezember 2017 besteht hinsichtlich der Form Klarheit: eine teils transparente, teils bedruckte Ausweishülle, die es auf Wunsch kostenlos beim Versorgungsamt Hamburg gibt.

Hamburg wird damit das erste Bundesland, das diese Hülle kostenlos ausgibt. „Ihre Aktion hat viel Öffentlichkeit erfahren und dafür gesorgt, dass mehrere – insbesondere junge – Menschen mit Behinderung im Versorgungsamt Hamburg einen Antrag auf einen solchen Ausweis gestellt hatten“, schreibt die Behörde seinerzeit über Hannah Kiesbyes ebenso einfache wie großartige Idee.

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Auch in Berlin kann der Ausweis beantragt werden

Im Januar 2018 teilt die rheinland-pfälzische Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) mit, dass auch in Rheinland-Pfalz der Schwer-in-Ordnung-Ausweis beim Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung beantragt werden könne und umgehend kostenfrei ausgehändigt werde. In Niedersachsen gibt es seit März 2018 eine gleichartige kostenlose stabile Ausweishülle wahlweise mit der Aufschrift „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ oder „Meine Teilhabe“.

In Berlin kann sie seit April 2018 formlos beim Versorgungsamt des Landesamtes für Gesundheit und Soziales angefordert werden. Auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen werden auf Antrag Ausweishüllen mit dem Aufdruck „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ ausgegeben.

Sie mag Sport und mit Freundinnen Musik zu hören

Dazu heißt es vor der morgigen Ordensverleihung aus dem Bundespräsidialamt: „Sprache kann Mauern überwinden. Ihre Initiative ließ aufhorchen und hat bundesweit eine Diskussion angestoßen, in der es nicht nur um eine neue Bezeichnung für einen Ausweis geht, sondern um den veränderten Blick auf Menschen mit Behinderungen. In diese Debatten bringt sich Hannah Kiesbye aktiv ein und vertritt ihre Interessen – ganz nach dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention: Nicht ohne uns über uns.“

Die Angesprochene freut sich, jetzt so berühmt zu sein. Viele in der Schule sprechen sie an, auch Lehrer. Aber, sie ist auf dem Boden geblieben. Sie könne das alles trennen, ihr Privatleben und den Rummel um ihre Person und die Ausweishüllen. Manchmal wird es ihr dann doch zu viel. Sie weiß sich dann abzulenken. Früher ist sie viel geritten, jetzt steht aber der Zirkus in ihrem Fokus. Regelmäßig geht sie zum Training in die Circusschule TriBühne. In Altona jongliert sie mit einem Diabolo, dazu läuft Musik ihrer Lieblingsband Santiano. Oder sie springt Seil, übt sich in Akrobatik und im Einradfahren, was ihr sehr viel Spaß macht. Und dann sind da auch noch ihre Freundinnen, mit denen sie sich trifft, um Musik zu hören, zum Beispiel von Deine Freunde oder Nena. Oder sie sprechen über Bücher wie „Die wilden Hühner“.

Nächstes Ziel: einen guten Beruf zu finden

Im Anschluss an die allgemeinbildende Schule in Pinneberg besucht die Halstenbekerin seit 2019 die Bildungseinrichtung Campus Uhlenhorst. Das Kooperationsprojekt verbindet Lernen mit praktischer Arbeitserfahrung. So sollen die Teilnehmer auf Ausbildung, Beschäftigung oder Arbeit vorbereitet werden. „Früher wollte ich Erzieherin werden, jetzt bin ich mir noch nicht sicher, was ich beruflich machen möchte“, stellt sie fest. Die Schauspielerei gefällt ihr. Sie könne sich aber auch vorstellen, als Servicekraft in einer Küche oder auch im Altenheim zu arbeiten. „Aber ich hab ja noch genug Zeit, mir was Gutes auszusuchen“.

Aber erst mal kommt Berlin. „Es ist schon ziemlich cool, nach Berlin zu fahren und den Bundespräsidenten zu treffen“, sagt Hannah Kiesbye. Sie freue sich, und sie wisse auch schon ganz genau, was sie anziehen wird. „Und ich werde bestimmt etwa darüber schreiben.“

Wer sonst noch einen Orden bekommt

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier zeichnet am 1. Oktober 15 Menschen mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aus – sieben Frauen und acht Männer. „Sie helfen, die Corona-Pandemie zu bewältigen, fördern das Zusammenwachsen von Ost und West und tragen dazu bei, Vorurteile in unserer Gesellschaft abzubauen“, teilt das Bundespräsidialamt mit. Neben Hannah Kiesbye sind es unter anderem Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité, der ehemalige Fußball-Profi Thomas Hitzlsperger, die für ihren Youtube-Kanal bekannte Wissenschaftlerin Mai Thi Nguyen-Kim, der Schriftsteller Ingo Schulze und der Pianist Igor Levit.