Helgoland. Am Lummenfelsen verenden Basstölpel und Trottellummen im Müll, den sie zum Nestbau verwenden. Nun wird das Problem erforscht.
Als Michael Kracht aus Kisdorf sich die Fotos ansieht, die er am 8. April auf Helgoland geschossen hat, traut er seinen Augen kaum. „Die Basstölpel am Lummenfelsen nisteten auf Plastikmüll“, sagt der 58-Jährige. Er postete einige Fotos in der Facebook-Gruppe „Wenn du aus Schleswig-Holstein bist“. „Die Reaktionen waren heftig“, sagt er. Das habe ihn bewogen, einen offenen Brief an den Umweltausschuss des Kreises Pinneberg zu schreiben. Nicht als Anklage, sondern um zu zeigen, dass man etwas gegen die besorgniserregende Verschmutzung der Felsenküste Helgolands mit Plastiknetzen unternehmen muss.
„Das Problem ist bekannt“, sagt Hans-Jürgen Bethe, Mitglied der Grünen-Kreistagsfraktion und des Umweltausschusses. „Schon seit Jahren bauen die Basstölpel ihre Nester mit den Plastikschnüren und den von den Fischern verlorenen Netzen. Sie können keinen Unterschied machen, ob es gutes oder böses Nistmaterial ist.“ In der Vergangenheit seien Nester entfernt worden mit dem Resultat, dass die Vögel im nächsten Jahr neue aus Plastik gebaut hätten. „Das Problem ist ja nicht nur der Nestbau, sondern auch, was die Vögel an Plastik als Nahrung aufnehmen und mit vollem Magen verhungern“, sagt Bethe. Es sei nicht nur ein Problem auf Helgoland, sondern weltweit und von Menschen gemacht. Bethe hat Kracht eingeladen, das Thema gemeinsam mit einem Experten bei einer der nächsten Umweltausschusssitzungen zu erläutern.
Wissenschaftler des Vereins Jordsand schreibt seine Promotion über das Thema
Dieser Experte ist Elmar Ballstaedt, der für den Verein Jordsand das Vogelschutzgebiet auf Helgoland betreut. Der Umweltwissenschaftler erforscht aktuell die Meeresvögel in Hinblick auf den Plastikkonsum. „Bislang werden die Konsequenzen der Verstrickung von Seevögeln im Meeresmüll wissenschaftlich nur wenig beleuchtet, anders als beispielsweise bei Meeressäugern oder Fischen“, sagt der 31-Jährige, der das Projekt in seiner Promotion durchführt. Die Pilotstudie läuft seit Januar.
Erstmalig seilten sich im Dezember 2015 Greenpeace-Aktivisten und Journalisten des Magazins GEO an dem Vogelfelsen ab, um plastikverseuchte Nester zu bergen. Der Klettereinsatz in 40 Meter Höhe war der Auftakt des Forschungsprojekts zur zunehmenden Plastikvermüllung der Meere. Die Kletterer am Lummenfelsen nutzten die Zeit außerhalb der Brutsaison, um die Vögel nicht zu stören. Die Umweltschützer und Forscher bargen sieben Nester. „Darin fanden wir insgesamt zehn Kilogramm Plastikmüll“, sagt Ballstaedt. Hochgerechnet auf 10.000 Brutpaare könnten das theoretisch mehr als 14.000 Kilogramm Plastikmüll sein, auf denen die Vögel brüten.
„Wir erhoffen uns durch die erstmalige chemische Analyse von über einem Kilogramm künstlichem Nistmaterial aus den Basstölpelnestern Erkenntnisse darüber, aus welchen Kunststoffarten das genutzte Material besteht. Damit könnte man es im besten Fall Industriesparten zuordnen und Lösungen erarbeiten“, sagt Ballstaedt. In diesem Frühling besteht die Hauptarbeit darin, aus den Nestern geborgenes Plastik im Labor zu untersuchen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die Feldarbeit direkt im Felsen. „Durch tägliche Zählrunden möchten wir die jährlichen Verstrickungsraten bestimmen, um die Auswirkungen auf die Population berechnen zu können“
Viele der bunten Polyethylenfäden in den Nestern stammen aus der industriellen Fischerei, behaupten beispielsweise Greenpeace-Aktivisten. Sie nehmen dabei insbesondere die sogenannten Dolly Ropes in den Fokus, die als Scheuerschutzfransen schwere Grundschleppnetze vor vorzeitigem Abrieb bewahren. Ballstaedt relativiert diese Annahme. Seiner Ansicht nach können die blauen und roten Fasern beispielsweise auch von Tauen stammen, die grundsätzlich nicht nur von der Fischerei verwendet werden. Er will mit seinem auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekt nun herausfinden, wie viel und welche Art von Plastik zum Nestbau genutzt wird, woher es stammt. Die wissenschaftliche Auswertung übernehmen der Verein Jordsand, das Institut für Vogelforschung Helgoland, die Biologische Anstalt Helgoland und das Forschungs- und Technologiezentrum Westküste. Die Gemeinde Helgoland unterstützt die Arbeit mit einem Stipendium.
Wie viel Plastik vertragen Helgolands Vögel?
Ein Abräumen des Plastiks vom Felsen ist, vor allem aus Sicherheits- und logistischen Gründen, nicht praktikabel. Der rote Sandstein ist porös und selbst für erfahrene Kletterer gefährliches Terrain. Das Reinigen der Felsen vom Plastikmüll bringe hingegen nur wenig. „Schon in der darauffolgenden Brutsaison bringen die Tiere wieder neues Plastik von See als Nistmaterial in die Nester ein“, sagt Ballstaedt. Der neue Müll sei für die Vögel weitaus gefährlicher als der alte, mit Kot verfestigte. „Die Vögel verfangen sich leichter in den vom Wind bewegten Strippen und verenden.“
Es sind vor allem die Basstölpel, eine Hochseevogelart, die deutschlandweit nur hier brütet, die Plastik in ihre Nester einbaut und offenbar aktiv danach sucht. „Da die Trottellummen ganz nah an den Basstöpeln nisten, verfangen sich auch sie in dem Plastik“, sagt Ballstaedt. Eissturmvögel, Tordalk und Dreizehenmöwe, die auch am Lummenfelsen brüten, scheinen dagegen verschont zu bleiben.