Elmshorn. Der Verein Wendepunkt verzeichnet seit Jahren steigende Fallzahlen. Auch traumatisierte Flüchtlinge kommen jetzt in die Beratungsstelle.

Immer mehr Menschen suchen Hilfe beim Wendepunkt. Bei der Elmshorner Beratungsstelle bei sexuellem Missbrauch, körperlicher und psychischer Gewalt, Misshandlung, Kindesvernachlässigung sowie für Ursachenklärung in Bezug auf Gewalt haben im vergangenen Jahr 1182 Menschen um Unterstützung gebeten. Das sind elf Prozent mehr als 2017. Da waren es noch 1019 Menschen. „Die Zahlen sind kontinuierlich steigend“, sagt der Wendepunkt-Leiter Dirk Jacobsen mit Blick auf die vergangenen Jahre. So waren es 2016 noch 870 Menschen. Das ist eine Zunahme um knapp ein Drittel innerhalb von zwei Jahren.

Zusammen mit den Fachbereichsleitern hat Jacobsen jetzt die Jahresbilanz des Trägervereins vorgestellt. Er ist seit Anfang 2019 Nachfolger von Ingrid Kohlschmitt, die vor gut einem Vierteljahrhundert den Wendepunkt ins Leben gerufen und sich im vergangenen Jahr in den Ruhestand verabschiedet hatte.

Es gebe eine hohe Dunkelziffer, viele Menschen trauten sich nach einem sexuellen Übergriff nicht, sich Hilfe zu suchen, sagt Jacobsen. Der Wendepunkt hat sich und seine Hilfsangebot in den vergangenen Jahren bekannt gemacht, ein weites Netz von Kontakten geknüpft. Auch durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit wissen Menschen, welche Hilfen sie bei der Elmshorner Beratungsstelle bekommen können.

Das hat nach Aussage Jacobsens dazu geführt, dass Menschen eher bereit seien, Kontakt mit dem Wendepunkt aufzunehmen. Das sei ein Grund für die steigenden Fallzahlen, die also nicht zwangsläufig ein Indiz für eine zunehmende Zahl an Übergriffen sind. Es gibt allerdings eine neue Gruppe von Hilfesuchenden, die sich in den gestiegenen Fallzahlen wiederfinden. Es seien die Flüchtlinge, die mit traumatisierenden Erfahrungen nach Deutschland gekommen seien, so Jacobsen.

Angesichts der steigenden Hilfeanfragen ist die vorsorgende Arbeit weiter ausgebaut worden. Die Präventionsangebote an Schulen, die Elternabende und die Fortbildungen für das pädagogische Personal würden gut angenommen, berichtet die zuständige Fachbereichsleiterin Jutta Wedemann. So seien allein mit den Fortbildungen, Workshops und Seminaren im Rahmen des Wendepunkt-Fortbildungszentrums (WFZ) im vergangenen Jahr 2046 Fachkräfte erreicht worden. 2017 waren es noch 1200 Teilnehmer.

Kreis hat Geld für die Präventionsarbeit gestrichen

In diesem Bereich musste der Wendepunkt allerdings einen Rückschlag hinnehmen. Seit 2018 fördert der Kreis die sexualpädagogische Prävention nicht mehr. Das Geld wurde in andere Sozialbereiche verschoben. „Deutschlandweite Zahlen zeigen, dass der Bedarf in diesem Bereich relativ hoch ist“, kritisiert die Geschäftsführung die Entscheidung des Kreises – und hofft auf einen Sinneswandels seitens der Politik.

Mehr zu tun gab es auch in dem Fachbereich, in dem Betroffene beraten werden, aber auch pädagogische Kräfte gecoacht werden. Laut Fachbereichsleiter Sascha Neumann stiegen die Fallzahlen von 457 auf 513. Und 79 Kinder mit ihren Familien wurden im Rahmen der Erziehungs- und Familienhilfe unterstützt, berichtete die Fachbereichsleiterin Lena Würger. Sie werden dauerhaft, teilweise jahrelang vom Wendepunkt betreut. Nicht in der Statistik aufgeführt werden Kinder, denen kurzfristig geholfen werden kann.

Neuland hat der Wendepunkt in Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychatrie der Regio Klinik Elmshorn mit der Einrichtung einer Trauma Ambulanz für Kinder betreten. Beim Wendepunkt stieg die Fallzahl 2018 um knapp 15 Prozent, beim Krankenhaus innerhalb von drei Jahren um 20 Prozent, sagt der Regio-Klinik-Psychologe Ralph Kortewille. Folge: Der Wendepunkt musste für seinen Teil der Arbeit das Defizit des vergangenen Jahres mit Spenden stopfen. Und die Finanzierung ist für 2019 nicht gesichert.

Bernd Priebe leitet den Fachbereich, der mit den Tätern arbeitet und sie vor Rückfällen bewahren soll. Dort stieg die Fallzahl von 314 in 2017 auf 336 im vergangenen Jahr. „Es ist der beste Opferschutz, wenn diese Menschen keine Taten mehr begehen“, sagt Priebe. Das Klientel der Berater in diesem Bereich reicht vom Schüler, der durch Grapschereien aufgefallen ist, bis zum Vergewaltiger, dem vom Gericht eine Therapie auferlegt worden ist. „Diese Arbeit ist in Deutschland nicht selbstverständlich“, sagt Priebe. 2018 konnte gerade das zehnjährige Bestehen dieses Fachbereiches begangen werden.

Der zusätzliche Arbeitsbedarf spiegelte sich übrigens auch in den Mitarbeiterzahlen wider. Aktuell sind es 42 festangestellte Mitarbeiter, die sich 33 Stellen teilen. 2014 waren es noch 34 Mitarbeiter.

Hier gibt’s Hilfe

Menschen, die nach sexueller und körperlicher Gewalt Hilfe benötigen, in Erziehungsfragen Unterstützung brauchen oder sich fortbilden wollen, können sich unter Telefon 04121/47 57 30 an den Wendepunkt in Elmshorn, Gärtnerstraße 10–14, wenden. Auf der Website www.wendepunkt-ev.de werden nicht nur die Hilfsangebot aufgelistet, sondern es gibt auch ein Kontaktformular.