Appen. Ohne Schuhe liefen Vera und Friedhelm Nagel, 82, aus ihrem Haus in Kummerfeld – und mussten dabei zusehen, wie es abbrannte.
Da sitzen sie nun. In einem Appener Seniorenheim, wo die Bewohnerinnen, die in der Eingangshalle sitzen, leise „Lilli Marleen“ singen. Vera Nagel in ihrer blauen Strickjacke und Friedhelm Nagel mit kariertem Sommerhemd und Freizeithose. Beide sind sie 82 Jahre alt, und beide können noch immer nicht fassen, was passiert ist. Am Sonntagabend ist ihr bescheidenes Häuschen in Kummerfeld abgebrannt – mit restlos allem, was darin war. Vera und Friedhelm Nagel haben nun nicht mehr, als sie auf dem Leib tragen, und selbst seine Badelatschen sind geliehen, ebenso wie die Crogs, die Vera Nagel inzwischen bekommen hat.
Als der stellvertretende Kummerfelder Bürgermeister Burkhard Tiemann sie am ersten Tag seines neuen Amtes angerufen habe, erzählt die Pflegeheimleiterin Anne Schäfer, „da wusste ich, dass wir in diesem Notfall zusammenrücken müssen.“ Die tatkräftige Frau hat den Nagels zuerst mal jedem ein Bett besorgt – leider auf getrennten Etagen, wo sie sich nicht an den Händen halten können, wie sie es sonst immer tun, auch nach 57 Jahren Ehe noch.
„Wir waren ja eigentlich voll“, sagt Anne Schäfer. Inzwischen hat sie mit Ämtern und Ärzten telefoniert, um den beiden alten Herrschaften die nötigsten Dinge und Medikamente zu beschaffen und die wichtigsten rechtlichen Dinge in die Wege zu leiten.
Sie hatten ein gemütliches Leben, bevor das Unglück geschah. Er war für das Frühstück zuständig, sie hatte am Nachmittag das leckere Essen vom Vortag aufgewärmt. Als sie damit fertig waren und sie in ihr Zimmer gegangen war, sah er draußen einen Mann im weißen Hemd an eine Scheibe klopfen. „Ich dachte, wir bekommen Besuch. Aber er rief: Es brennt bei Ihnen! Als ich dann rausguckte, sah ich, wie über der großen Tür neben der Küche die Flammen nach oben schossen.“ Eine Explosion, wie von der Feuerwehr berichtet, habe es nicht gegeben.Er könne sich aber vorstellen, dass die Hohlraumplatten aus Kunststoff, mit denen sie ihr Schwimmbad abgedeckt hatten, in der Hitze der Flammen geplatzt seien. Barfuß und ohne Brieftasche sind er und seine Frau hinausgelaufen.
„Der Herd war aus, wir haben nicht gegrillt, wir hatten nirgendwo Brandbeschleuniger oder Gas – und erst vor zwei Jahren haben wir unser Dach neu decken lassen. Ich weiß einfach nicht, wie das passieren konnte. Aber nun ist alles vorbei“, sagt der alte Mann und schaut mit seinen großen Augen um sich. Ungläubig, so als könne er das alles noch gar nicht begreifen. Er hat den Krieg miterlebt, damals den Kleingarten seiner Eltern mit bepflanzt, damit alle etwas zu essen hatten in den Hungerjahren. Er hat sein Leben lang gearbeitet, vier Schlaganfälle überstanden, er ist immer noch klar im Kopf, leidlich fit geblieben – und nun das.
Jetzt sitzt er hier in Appen, wo er bis zum Tag zuvor noch nie gewesen ist. Er, der immer alles allein gemacht, alles allein geschafft hat zusammen mit seiner Frau. Es fällt ihm nicht leicht, um Hilfe bitten zu müssen. Helfer sind eingesprungen und haben Kleidung vorbeigebracht, Nachbarn aus Kummerfeld haben für seine Frau eine Handtasche mit Toilettenartikeln abgegeben – mit einem Briefchen und einem Kinderbild dabei.
Mehr als 25 Jahre haben die Nagels dort in Kummerfeld gewohnt, seit sie aus Stellingen weg sind. Wann sie dorthin gezogen sind, wissen sie nicht mehr so genau. Ist ja jetzt auch egal.
Er hat als Ladungskontrolleur im Hafen gearbeitet, „rund um die Uhr“, wie er sagt. Und sie hat zu Hause die drei gemeinsamen Kinder großgezogen. Bevor sie in ihr Kummerfelder Dreizimmerheim eingezogen sind, hat Vera Nagel dort allein gemauert, verputzt, den Keller ausgeschachtet. Ja, das hat sie gekonnt. Und jetzt ist alles hin. „Das tut weh“, sagt sie und schaut zur Seite.
Jahrelang haben sie alles für die Kinder ausgegeben, damit sie Abitur machen können, ihre Talente gefördert werden – „ich bin putzen gegangen und hab auf andere Kinder aufgepasst – wir haben schon ganz schön gewühlt, um das zu schaffen.“ Sie hätten das Geld lange zusammengespart. „Wo sollen wir denn jetzt hin?“ fragt sie.
Nach und nach seien 40 neue Einfamilienhäuser um sie herum gebaut worden. „Wir kennen nicht mehr viele Leute dort. Und wir sind auch stur. Wir sind nicht die Menschen, die dauernd auf andere zugehen.“ Früher, da hat Vera Nagel Volleyball gespielt, viele Jahre lang, „und wir haben immer gefeiert. Auch wenn wir verloren haben!“ Irgendwann ging das mit dem Springen nicht mehr. So wurden sie älter, und als sich die beiden von ihren Stühlen erheben, ist die Last, die sie nun zu tragen haben, deutlich an ihren müden Schultern und ihrem schleppenden Gang zu sehen.
„Mein Mann ist ein Eigenbrötler“, sagt Vera Nagel mit einem liebevollen Blick zu ihrem hin und wieder etwas widerborstigen Ehemann. Der schaut sie lammfromm an. „Vielleicht wär’ das mit dem betreuten Wohnen ja doch etwas für uns“, sagt sie dann. „Da wird ja schließlich auch etwas angeboten. Spiele und Theater und so etwas. Das finde ich nett.“ Friedhelm Nagel sagt nicht viel dazu. Er muss das erst mal alles setzten lassen.
Die Polizei ermittelt weiter nach der Brandursache.