Aus Lehrer und Politiker Frank Sievert wurde Franziska Sievert. Die Familie und die Kollegen in Wedel gehen mit der Situation entspannt um
Wedel/Kaltenkirchen. Auf das Klingeln öffnet eine Frau, die bunt gekleidet ist und deren Dekolleté eine dezente Perlenkette ziert. Auffällig groß, auffällig schütteres Kopfhaar im vorderen Bereich, fester Händedruck, männlich-herbe Stimme: Franziska Sievert ist ein Mann mit dem Vornamen Frank – noch und offiziell. Inoffiziell und im Herzen ist der Wandel von Frank zu Franziska vollzogen.
Wie also möchte er oder sie angesprochen werden? „Guten Tag, Frau Sievert?“ Die Antwort kommt locker und mit einem Lächeln im Gesicht: „Ganz genau“, sagt Frau Sievert. Im Wohnzimmer sitzt eine zweite Frau Sievert, die ebenso freundlich lächelt und jeglichen möglichen Anflug von Befangenheit wegwischt. Nadine Sievert ist die Ehefrau von Franziska Sievert. Ihr ist natürlich längst klar, dass sie nicht mehr die einzige Frau Sievert im Haushalt ist. Und andere sollen das auch erfahren.
Denn das Ehepaar will kein Versteckspiel. Frank ist Franziska – das kann, das soll jeder wissen. Die Nachbarn, die Freunde, die Kollegen, der Kaufmann, der Friseur. Und die Schüler. Denn Franziska Sievert, 38, ist seit den vergangenen Weihnachtsferien offiziell Lehrerin. Vorher war sie Lehrer für Physik und Mathematik und Klassenlehrer einer neunten Klasse in Wedel. So einfach ist das.
„Das ist hier für uns kein großes Thema“, sagt Andreas Herwig. Er hat vor kurzem die Leitung der Gebrüder-Humboldt-Schule übernommen und kennt Frank nur als Franziska, weiß aber um die Vorgeschichte. „Sie geht damit sehr offensiv um“, so Herwig. Dass die Wandlung so problemlos im Kollegium und unter den Schülern akzeptiert wird, freut den neuen Schulleiter. „Es zeigt ein hohes Maß an Toleranz, das in der Schule herrscht.“ Das Outing war wohl auch deshalb nicht so problematisch, weil es früher bereits zwei Schüler gab, die eine Geschlechtsumwandlung vollzogen hatten.
Im Lehrerverzeichnis der Gebrüder-Humboldt-Schule findet sich bereits die Bezeichnung Frau, allerdings auch noch der Vorname Frank. Das hier im Internet aufgeführte Lebensmotto lässt den zerrissenen inneren Zustand des Lehrers erahnen: „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, sein Leben lang spielt mancher Rollen...“ Das Zitat stammt von William Shakespeare aus dem Stück „Wie es euch gefällt“. Sein Leben lang wollte Frank Sievert aber keine Rolle spielen, deshalb hat er den Tausch gewagt, ist aus seiner Rolle geschlüpft: Herr Sievert ist jetzt Frau Sievert. Offiziell hat sie den Status einer Transfrau.
Die Kinder haben jetzt zwei Mütter, sagen aber weiter Papa
Im Wohnzimmer des sievertschen Reihenhauses in Kaltenkirchen geht es zu wie in vielen anderen Wohnzimmern, die von Kindern bevölkert sind. Gewusel, Gelächter, Geschrei. Fünf Kinder im Alter von 16 Monaten bis acht Jahren leben hier. Sie haben jetzt zwei Mütter, wobei ihnen freigestellt bleibt, ob sie die zweite Mama wirklich so nennen oder nicht. Sie haben sich, soweit sie überhaupt in der Lage sind, die Situation zu überblicken, für Papa entschieden. Die 31-jährige Nadine Sievert sagt Franzi – wobei sie zugibt, dass ihr der Name Frank auch noch gelegentlich herausrutscht.
Als Nadine und Frank Sievert 2008 heirateten, war es für ihn schon klar, dass er lieber eine Frau sein wollte. Ein irgendwie diffuses Gefühl, das latent vorhanden war, sich aber noch nicht manifestiert hatte. Die Ehefrau ahnte nichts davon. Es war eine Liebesheirat – und sie es es noch. Franziska liebt Nadine, Nadine liebt auch Franziska. Nur weil der Partner jetzt Röcke trage und sich schminke, sei die Liebe nicht verflogen. Franziska ist rein biologisch gesehen noch ein Mann und fühlt auch in sexueller Hinsicht wie einer. Nadine Sievert ist nach wie vor heterosexuell veranlagt. Sie sieht eine Frau vor sich, weiß aber, dass es sich um einen Mann handelt. Für Außenstehende nicht leicht zu verstehen, für die beiden aber ist diese Konstellation inzwischen Alltag. Für Frank Sievert war es ein langer Weg bis zur offiziellen Bekenntnis: „Ja, ich will jetzt eine Frau sein.“
Im vergangenen Dezember hatte Frank Sievert, der lange Vorsitzender der FDP in Kaltenkirchen war, während einer Sitzung der Stadtvertretung öffentlich erklärt, dass er fortan als Frau leben wolle. Das haben viele verwundert registriert, was aber wirklich dahinter steckt, wissen bisher nur wenige Eingeweihte. Bundeswehr, Studium, Beruf: Alles hat reibungslos geklappt. Aber tief in seinem Inneren wusste Sievert: „Ich versuche nur, den Mann zu spielen.“ Während der Pubertät entwickelte er diese Gefühle. Als Kind wollte er Kleider tragen, ohne zu wissen, was hinter dem Wunsch steckt. Später wurde die Neigung privat ausgelebt. Da gab es die heimliche Kleidersammlung, die auch im Keller existierte, nachdem Nadine und Frank geheiratet hatten.
Irgendwann hielt er das alles nicht mehr aus und erzählte seiner Frau von seinen Gefühlen, seinem Wunsch, lieber eine Frau sein zu wollen. Das war zum Jahreswechsel 2013/2014. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste Nadine Sievert überhaupt nicht, dass es so etwas geben kann. Sie reagierte verständnisvoll. „Es war gut, dass er sich damals geöffnet hat“, sagt sie. „Ein Trennungsgrund war das für mich zu keinem Zeitpunkt.“ Tatsächlich versuchte sie, das Geschehen von der vorteilhaften Seite zu betrachten: „Ich konnte mit Frauen immer schon besser kommunizieren.“ Und auch ihr Beruf als Visagistin war und ist hilfreich. In dieser Hinsicht berät sie gut und hilft beim Schminken.
Das Ehepaar wagte sich nur während der Dunkelheit auf die Straße
Innerhalb der Familie war die Sache schnell geklärt. Andererseits führt die Familie auch ein öffentliches Leben. FDP-Vorsitz, Stadtvertretung, Schule: Zunächst wagte sich das Ehepaar nur während der Dunkelheit auf die Straße. Allmählich entspannte sich die Situation. Gespräche mit den Nachbarn verliefen gut, es gab anfangs Tuscheleien, aber das legte sich bald.
Für den Moment ist also alles geklärt. Aber die Metamorphose ist noch nicht beendet. Zwar benutzt Franziska Sievert öffentliche Damentoiletten, aber biologisch ist sie ein Mann. Vor einer Geschlechtsumwandlung erwartet die Krankenkasse eine einjährige psychotherapeutische Begleitung, dann folgt eine hormonelle Behandlung, in deren Folge sich der Körper zu verändern beginnt. Jetzt trägt Franziska Sievert noch einen Plastikbusen, später sollen sich wirkliche Brüste entwickeln. Möglicherweise beginnt auch das Haar auf dem Kopf wieder zu sprießen.
Nach der hormonellen Behandlung können operative Eingriffe folgen, um Penis und Hoden zu entfernen und eine Vagina zu formen. Wie es dann um die Gefühle stehen wird, vermag heute niemand zu sagen. Offen ist bei einer weiteren Verwandlung auch, ob Nadine Sievert den Menschen weiterhin lieben würde, den sie 2008 als Mann geheiratet hat. Doch was die Zukunft bringt, ist in der Gegenwart egal. Für das Ehepaar Sievert und deren Kinder ist es wichtig, dass sich in der jetzigen Situation alle zufrieden fühlen.