Seit mindestens 500 Jahren leben die Rickmers auf Helgoland. Sie haben die Geschichte der Insel wesentlich mitbestimmt – und ihren Namen in die Welt hinausgetragen. Mit einem Hering fing alles an.
Helgoland. Andere mögen diesen Flecken Land in der Nordsee respektvoll „einzige deutsche Hochseeinsel“ oder mit Blick auf die Farbe des Gesteins Roter Felsen nennen. Für Detlev Rickmers ist das Eiland schlicht „der Korken, der da aus dem dunklen Wasser in der Deutschen Bucht ragt“. Wenn jemand so von Helgoland reden darf, dann ist es ein Rickmers. Detlev Rickmers, Vater Henry Peter Rickmers, Großvater Hans Carl Rickmers, der Urgroßvater, der Ururgroßvater – seit geschätzt 20 Generationen leben und wirken die Rickmers auf der Insel.
„Wer auf Helgoland zur richtigen Zeit die Fäden in der Hand führte, konnte sich des Erfolges sicher sein, denn der Felsen war immer ein enorm wichtiger Fixpunkt und Spielball in der Deutschen Bucht – für den Handel der Hansestädte im Mittelalter ebenso wie für die militärischen Kontrahenten Anfang des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein“, schreibt der Historiker Michael Herms in seinem Buch „Flaggenwechsel auf Helgoland“. Die Geschichte der Familie Rickmers ist untrennbar mit der des Eilandes verbunden. Und wenn die Geschichte über Helgoland hinwegrollte, dann hielt jedes Mal ein Rickmers zumindest einige Fäden in der Hand.
„Alles begann mit dem Hering“, sagt Hotelier Detlev Rickmers, 1960 auf Helgoland geboren. „Genau genommen, mit Tausenden.“ Heringe tauchten von 1425 an in Massen rund um den Felsen auf und machten aus dem abgelegenen Navigationspunkt für die Schifffahrt ein Wirtschaftszentrum. An die 2000 Fischer zog es zur Insel, die damals zum Herzogtum Schleswig gehörte. Sie mussten an den Gottorper Landesherrn ein sogenanntes Riemengeld abführen, eine Steuer pro Ruder im Fischerboot: Ein Ryckmer Peter Ryckmers taucht 1514 im „Reemenregister“ auf. „Er ist damit der erste erfasste Rickmers hier auf Helgoland“, sagt Detlev Rickmers.
Die Helgoländer verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei. Sie segelten aber auch auf Handelsschiffen über die Weltmeere. Wie der 1619 auf Helgoland geborene Erck Rickmers. Dessen Grabstein ist heute im Inneren der Inselkirche eingemauert. Und der 1702 verstorbene Seefahrer ist Namensgeber für den Vertreter der Rickmers-Familie, der heute als Reeder in Hamburg ansässig ist.
Außerdem lotsten die Helgoländer Schiffe durch die Deutsche Bucht in Elbe, Weser und Eider – oder auch nicht. Eine wichtige Erwerbsquelle der Helgoländer war nämlich das Strandrecht. Es regelte die Bergung von Gütern gestrandeter Schiffe. Für die Helgoländer war das ein lukratives Geschäft. Es wundert also nicht, dass sich die Inselbewohner mit allen Kräften gegen ein Leuchtfeuer wehrten – hätte es doch den Schiffen den Weg durch die Wellen gewiesen. 1626 unternahm der Landesherr einen Versuch, dauerhaft ein Leuchtfeuer auf dem Oberland zu errichten. Die Helgoländer sabotierten es immer wieder. „Es gehörte damals wohl einiger Mut dazu, eine Feuerblüse zu betreiben“, meint Detlev Rickmers. Sein Vorfahre Erich Rickmers scheint diesen Mut besessen zu haben. Im April 1672 erteilte Herzog Christian Albrecht den Männern Erich Rickmers und Jakob Friderichs die Konzession, ein Leuchtfeuer zu betreiben. Fortan leuchtete es hell auf den Klippen, und die Handelsschiffe fanden ihren Weg.
Im August 1714 übernahm das Königreich Dänemark die Herrschaft über das Herzogtum Schleswig. Auch Helgoland wurde dänisch und sollte es 93 Jahre lang bleiben. Bis Napoleon 1806 das Dekret über die Kontinentalsperre erließ. Mit der Wirtschaftsblockade wollte er Großbritannien in die Knie zwingen. Englands Weg, weiter Handel mit dem Kontinent zu treiben, führte über Helgoland. Die Engländer besetzten die Insel. In jenem Jahr wurde in einem kleinen Haus auf dem Unterland Rickmer Clasen Rickmers geboren. Er sollte weltberühmt werden.
In ganz kurzer Zeit entwickelte sich die Insel zu einem Handelsknotenpunkt. Die Lotsen und Fischer schmuggelten von Helgoland aus britische Kolonialwaren an den französischen Patrouillen vorbei. Umgekehrt brachten sie Waren vom Kontinent mit. Rickmer Clasens Eltern kamen so zu Reichtum und konnten ihren Sohn aufs Festland zur Schule schicken. Mit Ende der Wirtschaftsblockade im Jahr 1814 endete der Wohlstand. Rickmer Clasen kehrte in ein verarmtes Fischerdorf zurück und lernte auf der Insel Schiffsbauer. Der junge Mann hatte sich in Etha Reimers verliebt, deren Vater dem Paar aber die Zustimmung zur Heirat verweigerte. Das Paar verließ die Insel und ließ sich in Esens heimlich trauen. Die Sippe von der Klippe spaltete sich in die Helgoländer und die Bremerhavener Linie. In Geestemünde gründete Rickmer Clasen Rickmers 1834 die später weltbekannte Rickmers-Werft, auf der zeitweise die größten Segelschiffe der Welt und auch die jetzt in Hamburg liegende „Rickmer Rickmers“ gebaut wurden. Heute führen die Brüder Bertram und Erck Rickmers die Schifffahrtstradition weiter und lassen mehr als 200 Schiffe bereedern.
Etwa zeitgleich wandelte sich Helgoland zum Seebad, und der Wohlstand kehrte auf die Insel zurück. Peter Michelsen Rickmers und seine Frau Katharina führten ein kleines Gasthaus und eröffneten das erste – es war ja die englische Zeit – Greengrocer-Geschäft mit Frischwaren und Grünzeug.
Für die angestrebte Rolle als Kolonialmacht brauchte Deutschland unbedingt einen Zugang zur Hochsee. Ein weiteres Mal wechselten die Helgoländer ihre Staatsbürgerschaft. 1890 wurde Helgoland nach einem Tauschgeschäft mit England Teil des Deutschen Reiches. So fanden sich die Insel-Rickmers mit den Bremerhavener Rickmers wieder in einer Nation vereint. „Das Eiland ist dazu berufen, wie ein Bollwerk zur See zu werden, den deutschen Fischern ein Schutz, ein Stützpunkt für meine Kriegsschiffe, ein Hort und Schutz für das deutsche Meer gegen den Feind, dem es einfällt, auf demselben sich zu zeigen“, verkündete Kaiser Wilhelm in jenem Jahr.
Helgoland wurde zum Kriegshafen ausgebaut. Die Wirtschaft der Insel profitierte. Das Handelshaus Rickmers avancierte zum Lieferanten der kaiserlichen Marine – und verdiente gut. Hans Carl Rickmers und seine Frau Anna hatten das größte Handelshaus der Insel von Peter Michelsen Rickmers übernommen. Es umfasste auch das legendäre Hotel Empress of India.
Während der Nazi-Zeit wurde Helgoland erneut zur Festung ausgebaut. Hans Carl Rickmers machte eine Weile – wie schon sein Vater zur Kaiserzeit – mit dem Handelshaus als Lieferant der Marine gute Geschäfte. „Mein Großvater wurde schließlich im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront als Einkäufer eingesetzt, er verweigerte dann aber den Kriegsdienst und kam kurz vor Ende des Krieges in Gestapo-Haft“, sagt der Enkel Detlev Rickmers. Ein Rickmers fand Eingang in das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte. Hans Rickmers, in Bremen geborener Enkel des weltberühmten Schiffbauers Rickmer Clasen Rickmers, zählte zu den Männern, die mit Adolf Hitler am 9. November 1923 zur Münchner Feldhalle marschiert waren. „Eine Polizeikugel traf ihn in den Hintern“, weiß Detlev Rickmers. „Er starb an den Folgen einer Blutvergiftung.“ Hitler erhob Hans Rickmers zum „Blutzeugen der Bewegung“ und erwähnte ihn im Vorwort von „Mein Kampf“.
Die Rickmers mussten nach der Bombardierung Helgolands im April 1945 wie alle Helgoländer die Insel verlassen. Die Engländer erklärten das Eiland zur besetzten Zone. Mit dem sogenannten Big Bang, der größten nicht nuklearen Sprengung der Menschheitsgeschichte, sollte der ehemals so wichtige Militärstützpunkt am 18. April 1947 zerstört werden. Helgoland hielt stand.
Die Helgoländer Rickmers hatten inzwischen eine Dachwohnung in Cuxhaven bezogen und eröffneten dort 1947 ein Schiffsausrüstungsgeschäft. Im Mai 1949 gründete sich in Cuxhaven eine Untergruppe des Helgoländer Clubs Halluner Moats. Der junge Rechtsreferendar Henry Peter Rickmers, Vater von Detlev und seiner Schwester Kirsten Rickmers-Liebau, erhielt den Vorsitz. Henry Peter Rickmers war es, der sich 1950 in Hamburg mit dem Heidelberger Studenten Georg von Hatzfeld traf, um die friedliche Invasion Helgolands vorzubereiten und die Rückgabe der Insel von den Briten zu fordern.
„Mein Vater durfte als offizieller Vertreter Helgolands bei der Aktion natürlich nicht in Erscheinung treten“, sagt Detlev Rickmers. „Er leitete die Studenten René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld an seinen Bruder nach Cuxhaven weiter, der mit der rickmerschen Schiffsausrüstung Material zur Verfügung stellte und ihnen Kapitän Schulz mit dem Krabbenkutter ,Paula‘ für die Überfahrt vermittelte.“ Der Kinderbuchautor James Krüss, Bruder von Ernie Krüss, der späteren Ehefrau von Henry Peter Rickmers, übernahm die Öffentlichkeitsarbeit für die Aktion.
Die deutsche Presseagentur schickte den jungen Fotografen Jochen Blume nach Helgoland. Er fotografierte die Studenten am 20. Dezember 1950 beim Hissen der deutschen und der Europa-Flagge auf dem zerstörten Felsen.
Das Bild ging um die Welt. International wuchs die Solidarität mit den Helgoländern. Die Briten blockten, eine erneute Besetzung der Insel stand zur Debatte. Erst ein Treffen Anfang 1951 in Kiel brachte den Durchbruch. Henry Peter Rickmers war dabei. Wenige Tage nach der Kieler Konferenz folgte die Freigabeerklärung der Briten, die tatsächliche Freigabe Helgolands ein Jahr später zum 1. März 1952. Henry Peter Rickmers wurde 1956 zum Bürgermeister der Insel gewählt. Er blieb es bis 1980.
Henry Peter Rickmers war es auch, der den Wiederaufbau der Insel koordinierte. Heute stehen die in den 50er-Jahren errichteten Häuser auf Helgoland unter Denkmalschutz, darunter das Hotel Rickmers Insulaner, das Henry Peter Rickmers und Ernie Rickmers 1960 im Unterland eröffneten. Geführt wird es heute von Detlev Rickmers. Dort, wo sich die Green-Line-Bar im Hotel befindet, stand im Jahr 1823 jene Schiffswerft, in der Rickmer Clasen Rickmers sein Handwerk gelernt hat.
Weltgeschichte wird auf Helgoland heute nicht mehr geschrieben. Vor ein paar Jahren machte die Insel immerhin bundesweit Schlagzeilen – mit der Idee des Hamburger Unternehmers Arne Weber, Helgoland per Sandaufschüttung mit der vorgelagerten Düne zu vereinen und damit zu vergrößern. Detlev Rickmers unterstützte Webers Pläne, sah darin eine große Chance für die Insel. Doch die Idee hatte mehr Feinde als Freunde. Die Helgoländer lehnten das Projekt in einem Bürgerentscheid mehrheitlich ab.
Der Name Rickmers wurde von Helgoland aus in die Welt getragen, besonders durch Rickmer Clasen Rickmers, den Gründer der Werft in Bremerhaven. Seine Nachkommen zählen heute zu den großen Schifffahrtskaufleuten. Ururenkel Erck Rickmers saß eineinhalb Jahre für die SPD in der Hamburgischen Bürgerschaft. Auch der auf Helgoland geborene Schriftsteller James Krüss trug den Namen Rickmers in die Welt hinaus: Im Kinderbuchklassiker „Mein Urgroßvater und ich“ gibt es die Figur des „lustigen Hafenkapitäns“ Arnold Rickmers.
Detlev Rickmers pendelt zwischen Hamburg und Helgoland. Mit der Helgoländer Botschaft führt er in der Hamburger HafenCity ein Reisebüro für seine Hotels. Seine Schwester Kirsten Rickmers-Liebau lebt mit ihrer Familie in Uetersen und pendelt nach Helgoland, verwaltet den Nachlass ihres Onkels James Krüss und führt das nach ihm benannte Museum auf der Insel.
„Wie lange sich der Name Rickmers auf der Insel Helgoland halten wird, bleibt den künftigen Generationen vorbehalten“, sagt Detlev Rickmers, Vater von drei Töchtern. Er hofft darauf, „dass sie den guten Namen Rickmers weitertragen“ – und wie die gut 20 Generationen vor ihnen von diesem Korken, der da aus dem dunklen Wasser in der Deutschen Bucht ragt, zur rechten Zeit ein paar Fäden in der Hand führen.