Jüdische Gemeinde in Pinneberg steht vor großen Herausforderungen. Es fehlt Geld für Gebetsbücher und einen Lehrer. Gottesdienste werden oft ohne Rabbiner abgehalten. Nicht einmal die Fahrtkosten können erstattet werden.
Pinneberg. Vor 75 Jahren brannten in Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November Synagogen und Geschäfte jüdischer Mitbürger. Juden wurden beraubt, misshandel, ermordet. Das Hamburger Abendblatt in Pinneberg sprach anlässlich der Reichspogromnacht mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert, über jüdisches Leben im Kreis.
Hamburger Abendblatt: Herr Seibert, wie gedenken Sie der Reichspogromnacht?
Wolfgang Seibert: Da der 9. November auf einen Sonnabend und damit auf den jüdischen Feiertag Schabbat fällt, halten wir den Schabbatgottesdienst und ein Gedenkgebet im Gemeindezentrum Pinneberg am Freitag. Am Sonntag wird es mit der evangelischen Gemeinde in Pinneberg einen Gedenkgottesdienst geben. Am Schabbat, einem Freudentag, dürfen wir nicht trauern.
Viele jüdische Bräuche wie der Schabbat sind der Bevölkerung gar nicht bekannt.
Seibert: Es gibt zu wenig Informationen. Menschen, die sich dafür interessieren, können gern ins Gemeindezentrum kommen und sich informieren. Aber das Angebot wird selten genutzt.
Die jüngere Generation kennt das Judentum nur aus dem Geschichtsunterricht. Dass es jüdisches Leben im Kreis gibt, ist vielen nicht bewusst.
Seibert: Wenn wir Schüler etwa aus dem Religionsunterricht oder Konfirmanden hier haben, wissen die erstaunlich wenig über das jüdische Leben in Pinneberg. Vielleicht, weil sie kaum Zeitung lesen. Wenn sie hier sind, sind sie aber neugierig, wollen wissen, welche Speisevorschriften es gibt und wie der Gottesdienst abgehalten wird. Ich hatte einen evangelischen Kindergarten hier. Die Kinder haben mich mit ihren intelligenten Fragen zur Bibel erstaunt.
Haben Sie persönliche Erlebnisse, die Sie mit der Reichspogromnacht verbinden, zum Beispiel durch Ihre Großeltern?
Seibert: Mein Großvater war zu der Zeit schon in Holland, und meine Großmutter hat nicht darüber gesprochen. Ich muss auch gestehen, ich habe sie nie gefragt. Ihre Generation hat fast nie über das Erlebte gesprochen. Es sind die älteren Nichtjuden, die über ihre Erinnerungen an die Reichspogromnacht sprechen. Aber auch innerhalb der Jüdischen Gemeinde ist es ein Thema. Der größte Teil besteht aus Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion. Die wissen sehr wenig über die geschichtlichen Ereignisse jener Nacht und nehmen die Informationen interessiert auf.
Ihre Großeltern haben Ausschwitz überlebt. Haben sie nie darüber geredet?
Seibert: Mein Großvater ist an den Spätfolgen von Ausschwitz gestorben, als ich acht Jahre alt war. Meine Großmutter hat erst ganz kurz vor ihrem Tod darüber gesprochen. Dann hat sie mir Dinge erzählt, die ich nicht einmal meinen Kindern oder meiner Frau erzählen kann, weil sie zu grausam und bösartig sind. Ich trage nun die Erinnerungen meiner Großmutter mit mir herum.
Beschäftigt Sie das an Gedenktagen wie der Reichspogromnacht besonders?
Seibert: An solchen Tagen kommt das, was ich erzählt bekommen und auch gelesen habe, massiv wieder hoch. Ich versuche mich bei Vorträgen dann auf die lustigen Anekdoten zu konzentrieren. In Pinneberg hatte die SA zum Beispiel den Befehl erhalten, die Synagoge zu stürmen. Sie waren ganz irritiert, als sie feststellten, dass es in Pinneberg gar keine Synagoge gab. Nachdem das Missverständnis aufgeklärt wurde, brannte die SA die Synagoge in Elmshorn ab.
Die Jüdische Gemeinde Pinneberg ist von 17 auf 260 Mitglieder gewachsen. Vor welche Herausforderungen stellt Sie das?
Seibert: Je mehr Mitglieder, desto mehr Arbeit. Die können wir kaum noch leisten. Wir bieten für ältere Mitglieder Deutschunterricht an. In den Deutschkursen, die für Zuwanderer Pflicht sind, lernen sie deutsche Grammatik, aber nicht, wie man ein Brot kauft. Wir müssen ihnen Alltagsdeutsch beibringen, damit sie auch mal eine Zeitungsmeldung lesen oder etwas reklamieren können. Viele Juden, auch junge, sprechen zudem kein Hebräisch. Wir bieten auch da Unterricht an. Es gibt Integrationsmaßnahmen für Russischsprachige. Wir sind mit ihnen durch Schleswig-Holstein getourt, damit sie einfach mal sehen, wo sie nun leben. Und wir machen Sozialberatung, übersetzen zum Beispiel Schreiben von Ämtern.
Das ist praktische Lebenshilfe. Wie sieht es mit jüdischen Bräuchen aus?
Seibert: Religionsunterricht geben wir auch. Leider ist unsere Religionslehrerin ausgefallen, aber es geht bald weiter. 99 Prozent der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion wissen fast nichts über jüdische Gebräuche, möchten sie aber kennenlernen. Im Sozialismus war es nicht gern gesehen, und die Juden dort waren Diskriminierungen ausgesetzt.
Trotzdem scheint es eine große Identifikation mit dem Judentum zu geben.
Seibert: Es ist das Gefühl, als Jude muss man einer Gemeinde angehören. Bei den ehemaligen sowjetischen Juden gibt es viele, die sagen, wir glauben nicht an Gott, möchten aber in der Gemeinde sein. Sie kommen auch zu Gottesdiensten, trotz atheistischer Erziehung. Es gibt auch einige, die sich ihre jüdische Identität bewahrt haben. Aber es ging doch vieles verloren.
Wie zeigt sich jüdisches Leben im Alltag?
Seibert: Das Übertragen auf den Alltag ist schwierig. Wenn man die jüdischen Speisegesetze einhalten will, wird es relativ teuer. Das können sich die Leute, die Grundsicherung im Alter beziehen, nicht leisten. Sie sind zudem seit 50 Jahren gewohnt, diese Dinge nicht einzuhalten. Es ist schwer, das zu ändern. Auch das Schabbatgesetz, dass man sonnabends nicht arbeiten darf – auch nichtjüdische Angestellte nicht – kann nicht immer eingehalten werden. Ärzte, Krankenschwestern oder Polizisten sind vom Arbeitsverbot ausgenommen. Wir versuchen, Schabbat gemeinsam mit Gemeinde oder Familie zu verbringen. Einige Arbeitgeber sind verständnisvoll. Einige Juden haben auch Angst davor, ihrem Chef zu sagen, dass sie jüdisch sind, da sie Nachteile befürchten.
Ernähren Sie sich koscher?
Seibert: Soweit es geht. Ich esse kein Schwein, keine Schalentiere, nicht Fleisch und Milch zusammen. Koscher einkaufen ist schwierig. Ich hole Fleisch und Wurst vom türkischen Händler.
Die jüdische Gemeinde steht vor großen finanziellen Herausforderungen.
Seibert: Wir arbeiten ehrenamtlich. Wir haben kein Geld, um Gebetsbücher anzuschaffen. Alle Bücher stammen aus Privatbesitz oder wurden gespendet. Wir haben im Monat 200 bis 300 Euro zur Verfügung. Davon können wir den Ehrenamtlichen nicht mal die Fahrtkosten erstatten. Wir können uns im besten Fall zweimal im Monat einen Gottesdienst mit Rabbiner leisten. Und wir bräuchten einen Lehrer. Nach elf Jahren sind wir mit unserer Kraft am Ende.
Sie selbst wurden von Neonazis und radikalen Islamisten bedroht. Wie gehen sie mit Angst um?
Seibert: Die Angst darf nicht übergroß werden, weil sie lähmt. Ich stand unter Personenschutz der Polizei. Kirchen und Gewerkschaften haben zudem für mich Schutz organisiert. Und natürlich gibt es permanente Sicherheitsmaßnahmen für die Gemeinde.
Gab es Unterstützung von muslimischen Glaubensgemeinschaften?
Seibert: Die türkische Gemeinde und die Ahmadiyya-Muslime haben mich unterstützt. Wir arbeiten zudem eng im Trialog der Religionen zusammen. Es gibt gemeinsame Veranstaltungen, auch zur Reichspogromnacht. Übrigens ist es auch der 70. Jahrestag der Liquidierung aller Gettos im sogenannten Generalgouvernement.
Erfahren Sie im Alltag Antisemitismus?
Seibert: Es gibt versteckten Antisemitismus, der den meisten nicht bewusst ist. Verallgemeinerungen wie „ihr Juden“ oder jüdische Witze sind grenzwertig. Wenn sich Juden gegenseitig diese Witze erzählen, dann ist das auch das Lachen über die eigenen Schwächen und Eigenheiten. Wir erzählen jüdische Witze, aber die anderen erzählen Witze über die Juden. Das ist ein Unterschied. Die Eltern und Großeltern wurden antisemitisch erzogen, geben es unbewusst weiter an ihre Kinder. Das streift man nicht an dem Tag ab, an dem das System zusammenbricht. Das wird sich aber verlieren. Ich habe die Hoffnung, dass auch wir etwas dazu beitragen können.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Seibert: Ich hoffe, dass wir etwas mehr Geld vom Land bekommen. Und ich wünsche mir, dass wir stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert sind und die Menschen ihre Scheu verlieren und zu uns kommen. Ansonsten fühlen wir uns in Pinneberg sehr wohl.
Freitag, 8. November, 18.30 Uhr Schabbatgottesdienst, davor Gedenkgebet und Wissenserklärung im Gemeindezentrum Pinneberg, Clara-Bartram-Weg 14. Sonntag, 10. November, 11 Uhr, Gedenkgottesdienst in der Pinneberger Christuskirche, Bahnhofsstraße 2a. Ebenfalls Sonntag, 11 Uhr, wird den Opfern auf dem Gedenkplatz am ehemaligen Standort der Synagoge, Flamweg/Neue Straße, in Elmshorn gedacht.