Im Gespräch mit dem Abendblatt erzählt die Elmshornerin Gabriele Kascha, Vorsitzende des Vereins Selenogradsk, von ihrer ehrenamtlichen Arbeit in Russland, von Erfolgen, Hindernissen und neuen Projekten.
Elmshorn. Wir sind alle gleich, und doch ist jeder anders“ lautet der Titel eines Kunstprojektes, bei dem junge Russen und Deutsche – größtenteils mit, teils ohne Behinderung – voriges Jahr in Barmstedt gemeinsam Masken und Figuren aus Pappmachée schufen. Federführend war der Verein Selenogradsk, der seit vielen Jahren die Partnerschaft des Kreises Pinneberg mit dem russischen Rayon Selenogradsk mit Leben erfüllt. So war es die Vorsitzende Gabriele Kascha, selbst Heilpädagogin an der Heideweg-Schule in Appen, die mit ihrem Engagement und russischen Partnern dafür sorgte, dass behinderte Menschen in Selenogradsk, dem ehemaligen Cranz, überhaupt öffentlich wahrgenommen wurden. Für das Projekt bekam der Verein jüngst den mit 500 Euro dotierten Willi-Piecyk-Preis. Im Gespräch mit dem Abendblatt erzählt Gabriele Kascha von ihrer ehrenamtlichen Arbeit in Russland, von Erfolgen, Hindernissen und neuen Projekten.
Hamburger Abendblatt: Frau Kascha, was war das Besondere an dem Kunstprojekt?
Kascha: Hier haben junge Leute etwas für junge Leute gemacht, das ist wunderbar. Und es hat gezeigt, dass jeder wichtig ist. Menschen mit Behinderung können, egal wo wir sind, das Leben enorm bereichern.
Wie kam es dazu, dass sich diese völkerübergreifende Verbindung gerade in diesem Bereich entwickelt hat?
Kascha: Es war vor etwa 15 Jahren, als mir auffiel, dass nicht ein Mensch mit Behinderung auf den Straßen Selenogradsks zu sehen war. Ich habe nachgefragt und versucht, so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Schließlich stellte sich heraus: Sie waren alle zu Hause, wurden vor den Augen der anderen versteckt. So, wie es früher bei uns auch einmal war.
Was passierte dann?
Kascha: Wir konnten mithilfe einiger Russen die Familien ausfindig machen, die behinderte Kinder haben, trommelten die Eltern zusammen und sagten ihnen, dass es nur einen Weg gibt: Sie müssen sich solidarisieren, um stark zu sein. Das gelang dank Vera Malzeva, die selbst einen behinderten Sohn hat. Wir fragten sie, ob sie bereit wäre, mit einem Freizeitangebot für behinderte Kinder zu beginnen. Sie sagte sofort zu.
Wie wurde das Projekt finanziert?
Kascha: Der Verein hat alles bezahlt von der Krankengymnastik über die Logopädie, Ärzte und Pädagogen mit Sonderausbildung, die dort offiziell Defektologen heißen, sowie Kunsttherapeuten bis zur Nutzung der Gehörlosenschule. Die russische Administration hielt sich völlig raus, das Projekt wurde von ihr damals als nicht wichtig eingestuft.
Wann zeichnete sich eine Änderung ab?
Kascha: Wir konnten langsam ein Netzwerk aufbauen. Es dauerte etwa fünf Jahre, bis sich in Selenogradsk der heilpädagogische Gedanke etablierte und auch das Recht der Eltern behinderter Kinder auf Entlastung sowie eine gute Förderung ihrer Kinder. Vera Malzeva hat sich daraufhin bei uns in Schulen, Werkstätten und in Kitas mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Förderung von Menschen mit Behinderungen fortgebildet. Diese inzwischen anerkannte Tagesförderstätte besteht dort jetzt seit zehn Jahren, und sie wird teilweise von der Administration finanziell mit unterstützt. Der nächste Arbeitsschwerpunkt liegt jetzt im Aufbau einer interdisziplinären Frühförderung für Kinder im Alter bis 6 Jahren – ein großer Wunsch der russischen Seite.
Inwieweit engagiert sich der Verein?
Kascha: Es gibt hervorragende Ärzte und andere Fachleute in Russland, auch die medizinische Ausrüstung ist inzwischen top. Woran es fehlt, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Bezug auf alle Fachrichtungen, die sich an der Individualität des Kindes im Kontext seiner Familie und seines Lebensumfeldes orientiert, an deren Stärken und nicht an Schwächen oder „Defekten“. Ein sehr wichtiges und präventives Arbeitsfeld, in das die Kollegen jetzt bei uns Einblicke bekamen, und zwar in die interdisziplinäre Frühförderung Norderstedt, in eine integrative Stadtteil-Kindertagestätte und ins Werner-Otto-Institut in Hamburg.
Inwiefern?
Kascha: Im Juli fand bei uns auf Initiative des Vereins der erste Fachkräfteaustausch unter dem Thema „Stärkung von Familien mit entwicklungsverzögerten, behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern“ statt, und zwar zwischen Kollegen aus Medizin, Therapie und Pädagogik aus unserem Partnerkreis und Studenten der Fachrichtung Interdisziplinäre Frühförderung der Medical School Hamburg. Beide Seiten profitierten von diesem Austausch. Eine Fortsetzung der Reihe ist geplant.
Wie verständigten sich die Teilnehmer?
Kascha: Mit Händen, Füßen und allen zur Verfügung stehenden persönlichen Fähigkeiten. Doch es gab viele Fachbegriffe, wobei mein Sohn Lars half, der sich auch sehr im Verein engagiert. Er fungierte schon häufig als mündlicher oder schriftlicher Übersetzer.
Wo ist der Verein noch aktiv?
Kascha: Wir pflegen seit 14 Jahren den Austausch von Gastschülern, die ein Jahr in deutschen Familien wohnen.
Wie viele Gastschüler waren bereits hier?
Kascha: Insgesamt 85. Allein unsere Familie hat 31 aufgenommen. Meist sind es russische Mädchen, die hierher kommen. Die Gastschüler profitieren enorm von diesem Jahr in Deutschland, viele haben danach in Russland den Sprung ins Studium geschafft. Das Gastschuljahr hat keine von ihnen vergessen, es war der zukunftsweisende Blick über den eigenen Tellerrand.
Gehen auch deutsche Schüler nach Selenogradsk?
Kascha: Leider waren es waren bislang nur zwei. Die Tür steht immer offen.
Was ist der Grund? Sind die Schulen dort so schlecht?
Kascha: Im Gegenteil. In Selenogradsk ist jetzt eine moderne Schule mit einer wissenschaftlich-technischen Ausrüstung entstanden, die in Deutschland ihresgleichen suchen dürfte. Ohnehin hat sich Selenogradsk sehr gewandelt, etwa mit der neuen Seebrücke und dem neuen Park. Auch der alte Wasserturm wurde restauriert und neu eröffnet.
Was ist der Grund für die „Schönheitskur“ in Selenogradsk?
Kascha: Es kommen immer mehr vermögende Touristen aus Moskau und St. Petersburg an die Ostsee. Manche kaufen Häuser, die meist leerstehen, aber auch für Jobs sorgen, weil die Gebäude instand gehalten werden müssen.
Welche Projekte haben Sie noch vor?
Kascha: Eine zweite Gruppe von russischen Tierärzten aus den Partnerkreis will sich bei uns fortbilden. Zwischen den Feuerwehren bestehen seit langem enge Kontakte. Dann unsere russischen Bildungshungrigen, die jährlich unter einem Schwerpunkt eingeladen werden. Ebenso Kinder sozial benachteiligter Familien oder aus dem Kinderheim, die einmal jährlich eingeladen werden, sowie die Kindergruppen, die seit vielen Jahren in der Vorweihnachtszeit anreisen. Zudem vermitteln wir im Jahr drei bis vier Hospitationsplätze an Studenten unseres Partnerkreises.
Werden immer noch technische Geräte vom Kreis Pinneberg nach Russland als eine Art Entwicklungshilfe geschickt?
Kascha: Das läuft nur noch teilweise, da die Russen mittlerweile enorm investieren, etwa in medizinische Geräte. Jetzt wird allerdings die Kinderabteilung im Krankenhaus in Selenogradsk nach dem Vorbild der Regio Klinik in Pinneberg gestaltet und eingerichtet. Dennoch ist die Zeit des „reichen Onkels“ aus dem Westen vorbei. Wir versuchen zunehmend und nicht ohne Erfolg, die Russen finanziell einzubinden.
Wo ist der Verein noch aktiv?
Kascha: Wir pflegen seit vielen Jahren Jugendprojekte wie das Anlegen von Spielplätzen in beiden Partnerkreisen, toll waren auch immer die Konzerte der Musikschule Selenogradsk bei uns, die in 16 Jahren 140 Konzerte gegeben hat. Doch das wird immer schwieriger.
Warum?
Kascha: Die Kosten laufen uns davon, vor allem wegen der Busbeförderungsgebühr. Ausländische Busse werden seit kurzem bei uns zur Kasse gebeten. Auf einen Bus aus Selenogradsk können so bis zu 2000 Euro Gebühren zukommen. Das ist für die Musikanten nicht mehr darstellbar, wir haben uns bereits an den Kreis Pinneberg gewandt, um hier eventuell eine Lösung zu finden.
Gibt es weitere Hindernisse?
Kascha: Ja. Es wird immer schwieriger, ein Visum zu beantragen und bewilligt zu bekommen. Daran ist die deutsche Seite schuld, nicht etwa die Russen. Dennoch geht es weiter, unsere nächste Sommerreise steht schon fest, und zwar vom 8. bis zum 19. August 2014. Anmeldungen können über unsere Homepage www.selenogradsk.de erfolgen oder telefonisch unter 04121/92385.
Wie können Sie überhaupt Ihre ganzen Aktivitäten finanzieren?
Kascha: Ohne die Stiftung deutsch-russischer Jugendaustausch wäre nichts mehr möglich. Allein für die drei Projekte Spielplatzbau, Fachkräfte-Austausch und das in diesem Jahr zweite Projekt mit Menschen mit Behinderungen aus unserem Partnerkreis und der Lebenshilfe haben wir von der Stiftung 19.000 Euro bekommen. Auch die Sparkasse Südholstein engagiert sich, ebenso wie der Kreis Pinneberg. Für alle Projekte muss unser Verein aber immer 25 Prozent der Kosten aufbringen.
Was macht es so reizvoll, nach so vielen Jahren immer noch mehrmals im Jahr nach Selenogradsk zu fahren?
Kascha: Von der russischen Politik bin ich auch nicht immer begeistert. Aber mit der Solidarität zu den Menschen und unserer gemeinsamen Arbeit können wir einen Beitrag zur Menschlichkeit und Völkerverständigung leisten – und das macht die Motivation aus.