Norderstedt. Talk-Runde: Andreas Käckell (NDR) plauderte in Norderstedt mit Zeitzeugen über die WM 1974 und den DDR-Fußball.
Packende persönliche Schilderungen von Zeitzeugen, eine spannende Präsentation deutsch-deutscher Geschichte: Die Lehrer Michael Pape und Christoph Lindhorst machten in der Aula des Coppernicus-Gymnasiums ein Angebot, das mehr als 200 Schülerinnen und Schüler und auch Schulleiterin Heike Schlesselmann fesselte.
Die beiden Themenschwerpunkte des 90-minütigen Programms: Das legendäre Spiel zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in der Gruppenphase der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Sowie die Geschichte von Dirk Schlegel und Falko Götz, die 1983 ein Europapokal-Match des BFC Dynamo Berlin bei Partizan Belgrad nutzten, um in den Westen zu fliehen.
WM-Legendenspiel: Spannende Talkrunde im Coppernicus-Gymnasium
Den Beginn machte René Wiese vom Zentrum deutsche Sportgeschichte in Berlin. Er erläuterte in seinem Vortrag mit dem Thema „Hamburg, WM 1974. Bundesrepublik – DDR: Klassenkampf im Flutlicht?“ die historischen Umstände der WM-Partie in Hamburg.
Er gab außerdem einen Einblick in das Sportsystem der Deutschen Demokratischen Republik, beschrieb das Spannungsfeld zwischen Ost und West. Und klärte auf, was sich hinter der „Aktion Leder“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR verbarg; in dieser wurde genau geregelt, wie sich etwa 6000 Kulturschaffende, Fans und Touristen aus dem Osten, die von 600 Stasi-Spitzeln beobachtet wurden, während der WM in der Bundesrepublik zu verhalten hatten.
Mittelfeldspieler Harald Irmscher stand 1974 im DDR-Team
Anschließend eröffnete NDR-Moderator Andreas Käckell die Talkrunde mit zwei interessanten Zeitzeugen. Sein erster Gesprächspartner war Harald Irmscher. Der mittlerweile 78 Jahre alte Jenaer agierte 1974 beim 1:0-Erfolg seines Teams im Volksparkstadion bis zur 68. Minute im rechten offensiven Mittelfeld der DDR-Mannschaft. „Für uns war es ein absolutes Highlight, ausrechnet in Hamburg die beiden Nationalhymnen zu hören, gegen Weltstars wie Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath, Günter Netzer und Gerd Müller antreten zu dürfen“, sagte er, „die kannten wir ja sonst nur aus der Sportschau im Westfernsehen. “
Nach dem Match gab es noch ein zweites unvergessliches Erlebnis für den 41-malige Nationalsspieler, der zwei Jahre zuvor bei den Olympischen Sommerspielen in München mit der DDR die Bronzemedaille gewonnen hatte. „Auf dem Rasen lief mir Franz Beckenbauer über den Weg. Ich habe ihn gefragt, ob er mir sein Trikot geben würde.“
Irmscher ergatterte das Trikot vom „Kaiser“
Der „Kaiser“ vertröstete Harald Irmscher zunächst, weil er zur Dopingkontrolle musste; außerdem hatten die DDR-Funktionäre ihren Spielern den sonst üblichen öffentlichen Tausch der Jerseys verboten. „Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass das nichts mehr wird. Doch später kam der Franz dann tatsächlich in unsere Kabine, in der zu diesen Zeitpunkt einige seiner Teamkollegen saßen – und überreichte mir sein Trikot.“ Dass die DDR durch ihren Überraschungssieg in die schwierigere Zwischenrundengruppe mit den Niederlanden, Brasilien und Argentinien rutschte – geschenkt!
Über eines muss Irmscher heute noch schmunzeln: „Es gibt vom ganzen Spiel nur eine einzige Farbaufnahme. Und zwar deshalb, weil nur ein Fotograf mit einer entsprechenden Kamera hinter dem Tor von Sepp Maier saß.“
Der Lohn für die DDR-Spieler: 7000 D-Mark und 7000 Ostmark
Nach ihrer Rückkehr in die Heimat wurden er und seine Mannschaft wie Helden gefeiert. Als Belohnung für den sechsten Platz in der WM-Endabrechung und den Sieg gegen die Bundesrepublik gab es damals Anerkennung von höchster politischer Ebene sowie 7000 D-Mark und 7000 Ostmark für jeden Spieler.
Doch ansonsten fristete der Fußball im kleineren der beiden deutschen Staaten ein Schattendasein, wurde längst nicht so intensiv gefördert wie andere Sportarten. Harald Irmscher: „Damals gab es die unmissverständliche Ansage von der Parteiführung: 22 Schwimmer holen bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften 16 Medaillen, die Fußballer nur eine.“
Dieser Mangel an Wertschätzung, die fehlende sportliche und auch wirtschaftliche Perspektive waren für Dirk Schlegel und Falko Götz wichtige Argumente, um Pläne zu schmieden, die DDR zu verlassen. Der erste Versuch über Luxemburg scheiertert, der zweite über Belgrad gelang. Ganz leicht hatten es die beiden Republikflüchtlinge im Westen allerdings nicht; beide wurden für ein Jahr gesperrt, ehe sie bei Bayer Leverkusen in der Bundesliga durchstarten konnten.
Höhepunkt: NDR-Doku über Republikflucht zweier DDR-Fußballer
Für viele Schülerinnen und Schüler der Höhepunkt der rundum gelungenen Veranstaltung: Die halbstündige NDR-Reportage „Falko Götz und Dirk Schlegel – Flucht in ein neues Leben“ von Patrick Halatsch, die großformatig präsentiert wurde. Darin kehren beide noch einmal an alle Originalschauplätze des Jahres 1983 zurück, lassen sogar eine imaginäre Passkontrolle zwischen Jugolslawien und Österreich mit entsprechend strengen Blicken des Zöllners über sich ergegen.
Dirk Schlegel, der inzwischen in Berlin lebt und als Chefscout für Holstein Kiel arbeitet, war von der Dokumentation emotional ähnlich angefasst wie die jungen Zuschauer. „Das war damals ja schließlich ein entscheidender Wendepunkt in meiner Lebensplanung.“
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Das Schlusswort hatte dann Andreas Käckell, der zugab, am 22. Juni 1974 als zehn Jahre alter Junge nach der 0:1-Niederlage der Bundesrepublik Deutschland gegen die DDR bitterlich geweint zu haben. „Man kann sich alles, was wir heute gehört haben, heute kaum noch vorstellen. Seien wir froh, dass diese Zeiten vorbei sind“, sagte er. Und erntete tosenden Applaus...