Norderstedt. 75. Geburtstag: Amtsgerichts-Direktor und Anwältin aus Norderstedt erklären, wie die Grundrechte täglich im Gerichtssaal wirken.

Was haben der 75. Geburtstag des Grundgesetzes in dieser Woche und die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament mit mir zu tun? Das fragen sich derzeit auch in Norderstedt viele Bürger. Eine ganze Menge, sagen der Direktor des Amtsgerichts, Wolf Reinhard Wrege, und die Rechtsanwältin Daniela Jobke-Westhöfer vom Norderstedter Anwaltsverein. In einem gemeinsamen Appell wenden sich die beiden Juristen an die Norderstedter und rufen dazu auf, am 9. Juni eine Partei zu wählen, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht.

Wie wichtig Wrege die Rolle des Grundgesetzes nimmt, zeigt sich schon bei einem Blick in sein Büro im zweiten Stock des Amtsgerichts an der Rathausallee: Dort hängt über seinem Schreibtisch ein Bild des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der wichtigsten Hüterin der Grundrechte, die im Grundgesetz festgeschrieben wurden und die Grundlage nahezu allen Rechts in Deutschland bilden. Wenn das Amtsgericht in Norderstedt Recht spricht, bleiben das Grundgesetz und seine Werte stets der alles überragende Maßstab: Es geht Menschenwürde, Demokratie, Gerechtigkeit und noch viel mehr.

Nachbarschaftsstreit? Das Grundgesetz kennt die Lösung

Einig sind sich Wrege und Jobke-Westhöfer, dass das Grundgesetz nicht nur in der Hauptstadt Berlin oder in Karlsruhe beim Verfassungsgericht wirken, sondern auch vor Ort. „Das Thema ist megawichtig, auch für die Norderstedter“, sagt Wrege und bezeichnete das Amtsgericht als ein Kind des Grundgesetzes, das von den Planern der Stadt mit Bedacht in die Mitte des Ortes platziert wurde. Mit dem Gericht im Zentrum funktioniere eine lebendige Bürgerkultur, die Norderstedt auszeichne.

Dabei stellen die Norderstedter Anwälte und die Richter des Amtsgerichts immer wieder fest, dass sich die Gesetze und Verordnungen als ihre Arbeitsgrundlage stetig verändert. „Die Dinge werden immer komplizierter und damit auch das Recht“, sagt Wrege. „Wir leben in einer anstrengenden Zeit.“ Doch das Grundgesetz bleibe als „Quell“ dieses Regelwerks bestehen und wirke in das Gemeinwesen hinein. „Damit sind Konflikte lösbar“, sagt Wrege.

In Deutschland gibt es keine rechtsfreien Räume

Das bestätigt auch die Rechtsanwältin. „Die Werte sind die gleichen geblieben, aber es entstehen viele neue Regelwerke, zum Beispiel im Datenschutz“, sagt Jobke-Westhöfer, die als Interessenvertreterin ihrer Mandanten selbst bei Nachbarschaftsstreitigkeiten immer wieder auf das Grundgesetz zurückkommt. Wenn sich Nachbarn beispielsweise nicht über einen neuen Zaun auf der Grundstücksgrenze einigen können, muss die Justiz abwägen zwischen der Handlungsfreiheit des Individuums und den Interessen des anderen. Auf einen rechtsfreien Raum darf dabei niemand in der stabilen deutschen Rechtsordnung hoffen.

Dass dabei das Grundgesetz das Maß der Dinge darstellt, ist jedoch nicht allen Beteiligten eines Verfahrens klar. „Die Parteien interessieren Lösungen, die interessiert das Grundgesetz nur selten“, sagt Wrege. Daniela Jobke-Westhöfer sieht das ähnlich: Oft seien Mandanten sehr emotional engagiert, daher habe nicht jeder ein Ohr fürs Grundgesetz. Je komplizierter das Verfahren verlaufe, desto weniger Verständnis sei vorhanden. Dabei halte das Grundgesetz nach ihrer Meinung gemeinsam mit der Rechtsprechung die Gemeinschaft zusammen. „Wir sollten froh sein, dass wir eine funktionierende Justiz haben“, sagt sie.

Europawahl: „Wer schweigt, macht nicht mit“

Dieser Bewertung schließen sich manche Bürgerinnen und Bürger jedoch ausdrücklich nicht an, meint Wrege und verweist auf die Reichsbürgerszene, die auch in Norderstedt vorhanden sei. Dort sei die Bewegung jedoch vergleichsweise klein, da in der Stadt eine gut funktionierende Gesellschaft anzutreffen sei. „Wenn das Grundgesetz akzeptiert wird, erhöht das auch die Akzeptanz des Amtsgerichts“, sagt Wrege.

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Doch wer hat das letzte Wort? Das deutsche Verfassungsgericht als Hüterin der Grundrechte oder das europäische Recht? „Die Frage ist ungelöst“, sagt der Amtsgerichtsdirektor. Er erkennt die Tendenz, dass dem Europarecht immer mehr Bedeutung zukomme und dass es auch aus diesem Grund wichtig sei, am 9. Juni zur Wahl zu gehen. „Mit Blick auf die Europawahl muss klar sein: Wer schweigt, macht nicht mit“, sagt Jobke-Westhöfer.

Das Amtsgericht und der Anwaltsverein planen für den Herbst eine Reihe von öffentlichen Veranstaltungen zum Jubiläum des Grundgesetzes.