Norderstedt/Tangstedt. Geplant war ein „Museum am Wegesrand“, das die Geschichte der Flüchtlinge nach dem Krieg erzählt. Doch die Realität sieht traurig aus.
Die Holzwände verwittern. Der Selbstversorgergarten wuchert zu, und durch das Gestrüpp mit dornigen Brombeeren recken Krokusse tapfer ihre tiefblauen Blüten zur Sonne. Auf der kleinen Bank am Eingang liegt eine Bibel, an der Tür hängt ein Blumenkranz aus Plastik, der Briefkasten klappert windschief an der Wand.
Durch den Garten bahnen sich Spaziergänger mit Hunden vom Weg zur „Costa Kiesa“ einen Pfad zum Parkplatz am Kringelweg 99 gegenüber dem Spargelhof Bolhuis. Das Häuschen aber rottet ganz offenbar vor sich hin. Alle Anfragen, was denn aus dem einstigen, heute unter Denkmalschutz stehenden Behelfsheim für im Zweiten Weltkrieg ausgebombte Hamburger und Ost-Flüchtlinge werden soll, bleiben unbeantwortet.
2016 wurde das Behelfsheim unter Denkmalschutz gestellt
Das Behelfsheim sollte schon einmal abgerissen werden. Es war ein langer und harter Kampf, das Häuschen an der Grenze von Norderstedt-Harksheide und Tangstedt vor dem Abriss zu bewahren. Doch im Dezember 2016 hat das Landesamt für Denkmalpflege Schleswig-Holstein das Behelfsheim als „Sachgesamtheit Behelfsheim Tangstedt“ unter Denkmalschutz gestellt. In Schleswig-Holstein ist das 1944 errichtete Häuschen einmalig, denn es ist nahezu im Originalzustand mit dem Selbstversorger-Garten erhalten.
Noch im Dezember 2016 hat das Bauamt des Kreises Stormarn in Bad Oldesloe, das wegen der mehrmals wechselnden Kreisgebiete zuständig für das Behelfsheim war, dem Eigentümer Thorsten Fixemer im Sommer 2015 das Wohnen in dem 1946/1947 gebauten Behelfsheims verboten und verlangte unter Androhung einer finanziellen Strafe, das Häuschen abzureißen, weil es außerhalb der erlaubten Wohnhaus-Bebauung stehen würde. Fixemer aber sah das Behelfsheim als historisches Gebäude der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und setzte seit seinem Rauswurf durch die Stormarner Behörde alles daran, das Behelfsheim zu erhalten.
Geplant war eine Begegnungsstätte mit Ausstellungen, Lesungen und Konzerten
„Wir haben es wirklich geschafft! Das Häuschen ist als Denkmal anerkannt. Es darf nicht mehr abgerissen werden, und auch die Gartenparzelle muss erhalten bleiben“, freuten sich Thorsten Fixemer und seine Partnerin Anuschka Thomas, die mit ihren Kindern in dem Haus wohnten. Die junge Familie zog zwar aus dem Haus aus, wollte es aber zu einer Begegnungsstätte mit Ausstellungen, Lesungen und Konzerten machen.
Das Denkmalschutzamt Schleswig-Holstein sieht das Behelfsheim in seiner Gesamtheit als Ensemble mit der Gartenparzelle aus wissenschaftlichen und kulturellen Gründen als Kulturdenkmal mit besonderem Wert nach Paragraf 2 DSchG sowie Paragraf 8 an und hat es in die Denkmal-Liste des Landes Schleswig‐Holstein eingetragen. Der Schutzumfang bezieht sich auf das Behelfsheim und die Gartenparzelle. Zudem ist das Behelfsheim als Einzeldenkmal eingestuft und hat bereits jetzt einen besonderen Denkmalwert.
Das Ehepaar Kerinnes lebte mindestens 50 Jahre in dem Haus
Die Familie Thomas–Fixemer lebte 13 Jahre in dem Haus. Im Jahr 2000 hat Fixemer das Gelände, auf dem das Behelfsheim steht, vom nebenan wohnenden Eigentümer Helmut Sielk gepachtet. Sielk gehört das Grundstück, das Behelfsheim baute sein in Hamburg ausgebomter Großonkel Wilhelm Sielk 1946; dieser wiederum hatte den Boden dafür mit einem Selbstversorger-Garten von seinem Bruder Heinrich Sielk, Helmut Sielks Großvater, gepachtet.
Als Wilhelm Sielk 1947 starb, zog seine Ehefrau nach Hamburg, und Heinrich Sielk verpachtete das Behelfsheim 1948 für 20 Mark an Hildegard und Fritz Kerinnes, die aus dem ostpreußischen Goldap bei Königsberg, heute Kaliningrad, geflüchtet waren. Daher heißt das Haus auch Kerinnes-Haus. Das Ehepaar lebte mindestens 50 Jahre in dem Behelfsheim. Hildegard Kerinnes wurde 103 Jahre alt, Fritz Kerinnes um die 100 Jahre. Die Kerinnes-Erben verkauften das Häuschen an Thorsten Fixemer.
Den Antrag auf Denkmalschutz stellte Tangstedts Bürgermeister Norman Hübener. „Das Behelfsheim ist wegen seiner Geschichte schützenswert und sollte, wie von Anuschka Thomas und Thorsten Fixemer geplant, als Begegnungsstätte genutzt werden“, sagte Raymund Haesler, Tangstedts Archivar. Mit der Eintragung in die Denkmalschutzliste war ein wichtiges Zeitdokument vor der behördlichen Abrissbirne gerettet.
Auch das Stadtmuseum Norderstedt war interessiert
Erste Veranstaltungen folgten rasch. Anfang Oktober 2017 organisierten Anuschka Thomas und Thorsten Fixemer ein Fest, um mit Denkmalschützern, Veranstaltungsleuten und Freunden die nächsten Schritte des Kerinnes-Hauses zum Kulturdenkmal mit einer aktiven Begegnungsstätte zu planen. Auch das Stadtmuseum Norderstedt war interessiert.
Der Plan: Aus dem Kerinnes-Haus sollte ein Ort entstehen, an dem Veranstaltungen stattfinden, zum Beispiel über die Geschichte der Behelfsheime, über die Geschichte der Bewohner, über die Flucht einst und heute. Auch die Archivare aus Norderstedt, Tangstedt und Henstedt-Ulzburg wollten in dem Kerinnes-Haus Veranstaltungen anbieten, beispielsweise Vorträge über die Hamburger Bombennächte vom 24. Juli bis 3. August 1943, die „Operation Gomorrha“.
Als erste Ausstellung war eine Schau mit Fotografien von Enver Hirsch und Philipp Heuser geplant, die Behelfsheime aus der Hamburger Umgebung zeigen. Der Tischler Martyn Parish wollte Infotafeln entwerfen, die über die Geschichte des Hauses berichten, und die Landschaftsarchitektin Rosalie Zeile wollte den ursprünglichen Zustand des Parzellen-Gartens mit Wegen und Beeten wieder herstellen.
Das Behelfsheim ist nur 40 Quadratmeter groß
Neben dem Namen Kerinnes-Haus erhielt das ehemalige Behelfsheim rasch den Namen „Museum am Wegesrand“, bestehend aus dem 40 Quadratmeter kleinen Haus mit drei je zwölf Quadratmeter großen Zimmern, Küche, Sanitärraum, Ofen und dem 400 Quadratmeter großen ehemaligen Selbstversorgergarten. Zum Haus sollte ein Erlebnispfad führen, der die verschiedenen Stationen der ausgebombten Hamburgerinnen und Hamburger nachvollziehbar macht. Die Flucht vor dem Feuersturm aus der ausgebrannten Metropole an der Elbe. Den beschwerlichen Weg der Flüchtlinge, stets begleitet vom Verlust. Das Ankommen in der Natur. Die Freiheit. Ein Dach über dem Kopf. Nahrung aus dem eigenen Garten. Eine Dauer-Installation sollte die Besucherinnen und Besucher vom angrenzenden Parkplatz bis zum Haus leiten und dabei auf Info-Tafeln die Geschichte der Flüchtlinge erzählen.
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Nach Ende des Zweiten Weltkriegs herrschte größte Wohnungsnot in Deutschland. Die Lösung: Die Behelfsheime, die nach einer einfach zu lesenden Anleitung selbst aufgebaut werden konnten. Das Holz für die Hütten kam mit dieser Baukarte vom Deutschen Wohnungshilfswerk, die zudem den künftigen Bewohnern erlaubten, das Häuschen, einem Schuppen gleich, ohne Baugenehmigung zu errichten.
Kosten für die Renovierung sind offenbar zu hoch
Doch alle Pläne für das Kerinnes-Haus scheinen zu ruhen. Zwar hielt der Diakon Sieghard Bußenius einen Vortrag über den Kibbuz auf dem Brüderhof, auf dem sich junge Jüdinnen und Juden von 1934 bis 1939 auf die Aliyah, die Ausreise ins britische Mandatsgebiet Palästina, vorbereiteten. Zwar nahm sich der interkulturelle Verein Port to Port des Hauses an, zwar bekundeten die Archivare Volkmar Zeck aus Henstedt-Ulzburg und Raymund Haesler aus Tangstedt Interesse, zwar signalisierten das Freilichtmuseum Kiekeberg und die Initiative AktivRegion Alsterland Unterstützung. Doch die Liste der nötigen Renovierungs-, Garten- und Baumpflegearbeiten war dann wohl doch zu lang und kostspielig.
Immerhin kamen 600 Euro von privaten Spendern, doch der ersehnte Geldregen blieb aus. Offenbar bis heute, denn das Kerinnes-Haus, das „Museum am Wegesrand“ am Kringelweg 99 rottet weiter vor sich hin.