Kiel/Henstedt-Ulzburg. Prozessfortsetzung: Angeklagter fuhr Demonstrierende an. Wie sehr 24-jähriges Opfer bis heute unter psychischen Folgen leidet.

Im Prozess um die mutmaßliche Autoattacke eines zur Tatzeit 19-jährigen AfD-Mitglieds bei einer Antifa-Demonstration in Henstedt-Ulzburg im Oktober 2020 hat die Jugendstrafkammer des Kieler Landgerichts am Freitag ein weiteres Opfer des Vorfalls als Zeugin vernommen. Die heute 24-Jährige nimmt als Nebenklägerin am Strafverfahren teil. Sie leidet bis heute an den Folgen.

Wie berichtet hatte der heute 22-jährige Angeklagte mit dem tonnenschweren Pick-up seiner Mutter laut Vorwurf vier Personen angefahren und teilweise verletzt. Die Staatsanwaltschaft legt ihm versuchten Totschlag, gefährliche Körperverletzung und gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zur Last. „In der Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen“, habe er billigend den Tod der vier Opfer in Kauf genommen.

Auto-Attacke: Opfer begleitete ihren Freund zur „Naziveranstaltung“

Die einzige betroffene Frau ist dunkelhäutig. Gestern am sechsten Verhandlungstag schilderte die damals 21-jährige Hamburgerin den Vorfall am Rand der Gegendemo zu einer AfD-Versammlung im Bürgerhaus von Henstedt-Ulzburg und seine Folgen. Die Schülerin hatte ihren damaligen, ebenfalls von der Auto-Attacke betroffenen Freund zu der „Naziveranstaltung“ begleitet.

Nach eigenen Worten folgte die heute 24-jährige Zeugin ihrem Freund, als dieser das Gelände unmittelbar um das Bürgerhaus in Richtung Straße verlassen wollte. Dort sei das silberfarbene Fahrzeug aus seiner Parkbucht auf den Bürgersteig gelenkt worden und auf sie zugefahren.

Henstedt-Ulzburg: Tatfahrzeug beschleunigte auf 25 bis 35 km/h

„Ich bin nur noch gerannt“, berichtet die angehende Studentin. Laut Anklage beschleunigte der VW Amarok auf 25 bis 35 km/h, als er ungebremst die Geschädigten erreichte. Auf einem Grünstreifen neben dem Gehweg sei sie von hinten getroffen und zu Boden geschleudert worden, so die Zeugin. „Mein Kopf ist irgendwo gegen geschlagen.“ Dann habe sie gehört, wie ihr Freund „Du hast sie umgebracht!“ rief.

Mit diesem Auto fuhr der Angeklagte am Rande einer AfD-Veranstaltung in Henstedt-Ulzburg in die Antifa-Demonstranten.
Mit diesem Auto fuhr der Angeklagte am Rande einer AfD-Veranstaltung in Henstedt-Ulzburg in die Antifa-Demonstranten. © Antifa Pinneberg

Trotz Atemnot und zahlreicher Prellungen rappelte sich die Verletzte unter einem Adrenalinschub auf, hielt sich an einem Begleiter fest, musste sich nach eigenen Worten aber gleich wieder hinsetzen. „Dann kamen junge Männer zu mir, haben sich die ganze Zeit entschuldigt, dass fänden sie auch nicht ok.“ Später habe sie erfahren, dass es sich um die Begleiter des Angeklagten handelte.

Die Zeugin nahm schon vor Attacke Gruppe der Rechtsradikalen wahr

Der heute 22-jährige Fahrer räumte den äußeren Tatablauf zu Prozessbeginn ein und zeigte Reue. Er gab an, er habe „falsch reagiert“, als am Parkplatz „dunkle Gestalten“ der Antifa auf einen seiner Freunde eingeschlagen hätten. Kurz nach dem Vorfall, für den er sich nur entschuldigen könne, sei er aus der AfD ausgetreten. Er distanziere sich von seiner damaligen Gesinnung.

Schon früh waren der Nebenklägerin vor Ort die Männer in Springerstiefeln und Lederjacke aufgefallen, die sich laut polizeilicher Auswertung ihrer Handy-Daten zum „Zecken glotzen“ verabredet hatten. „Zu dritt oder zu viert“ hätten die mutmaßlichen Neonazis auf einer Bank gesessen, bis eine Ordnerin im Rollstuhl die provozierend wirkende Gruppe zum Gehen aufgefordert habe.

„Aus Selbstschutz“: Nebenklägerin achtet generell auf Signale von Neonazis

Als schwarze Frau und potenzielles Feindbild ausländerfeindlicher Neonazis und Rassisten war die Zeugin nach eigenen Worten besonders sensibel für die Anwesenheit von Rechtsradikalen. Deren Signale nehme sie auf solchen Veranstaltungen generell schon aus Selbstschutz besonders aufmerksam wahr. Trotzdem will die Zeugin vom weiteren Aufenthalt der Gegner unmittelbar vor der Autoattacke nichts mitbekommen haben.

„Sie werden inzwischen gehört haben, dass der Angeklagte und seine Freunde von einer größeren Gruppe verfolgt worden sein sollen“, sagt die Vorsitzende Maja Brommann. Es stehe im Raum, dass einer von ihnen geschlagen wurde. Ob es eine solche Gruppe gegeben haben könnte? „Es könnte alles möglich sein“, antwortet die Zeugin. Sie habe aber nichts wahrgenommen. Auf Nachfrage schließt sie dies jedoch auch nicht aus.

Psychische Folgen beeinträchtigten Abiturprüfungen

Die von einer Rechtsanwältin begleitete Nebenklägerin berichtet von Prellungen am Kopf, Brust und Oberschenkel. Wegen starker Rückenschmerzen bestand Verdacht auf eine Rippenfraktur. „Ich trug eine Halskrause, konnte erst nach einem Monat wieder alleine laufen und mich alleine anziehen.“

Weit länger – bis heute – belasteten sie die psychischen Folgen. „Ich wollte ein Einser-Abi haben“, erklärt die Zeugin. Weil sie unter Angstattacken litt, keine Kraft und Energie mehr hatte, habe sie bei den Prüfungen „den schlechtesten Schnitt gemacht, den ich je hatte“.

Nach mutmaßlichem Angriff: Start des Psychologie-Studiums auf Oktober verschoben

Nach Aktenlage war die Verletzte sieben Wochen arbeitsunfähig krank. Für ihr Wunschstudium der Psychologie habe sie sich nach dem Abi lange vergeblich beworben. Erst kürzlich bekam sie einen Studienplatz an einer teuren Privat-Uni. Den Anfang Juli geplanten Start habe sie jedoch auf Oktober verschoben. Ob sie glaube, dass es ihr nach dem Prozess besser gehe, fragt die Richterin. „Ich kann es nur hoffen.“

Die Jugendstrafkammer, die für den zur Tatzeit noch nicht 21-jährigen Angeklagten zuständig ist, hat für den Prozess neun weitere Verhandlungstage bis 12. Oktober angesetzt. Unter anderem sollen die Begleiter des Angeklagten vernommen werden.

Auch der gestrige Prozesstag war von einer Kundgebung des Bündnisses Tatort Henstedt-Ulzburg mit etwa 50 Teilnehmenden begleitet. Der aus Sicherheitsgründen durch einen separaten Eingang erreichbare Zuschauerraum, der durch eine Glasscheibe vom Verhandlungssaal abgetrennt ist, war wieder voll besetzt.