Norderstedt. Immer wieder fordern Politiker, man müsse den Kreis verlassen. Jetzt gibt es ein Gutachten, das endgültig klärt, ob das sinnvoll ist.
Kreisfreiheit! Immer wieder kam und kommt dieser Ruf aus der Norderstedter Politik. Doch lohnt es sich für die viertgrößte Stadt des Landes Schleswig-Holstein den Kreis Segeberg zu verlassen und sich als Solist komplett selbst zu verwalten?
Um es kurz zu machen: Nein. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten, dass die Norderstedter Politik bei Raphael Bögge in Auftrag gegeben hatte. Der ehemalige Bürgermeister und Kommunalpolitiker berät heute Städte und Kommunen in kniffligen Verwaltungsfragen.
Norderstedt raus aus Kreis Segeberg: Ergibt der „Nexit“ Sinn?
Bögge nahm sich nun die Verflechtungen und Verpflichtungen zwischen der Großen kreisangehörigen Stadt Norderstedt und dem Kreis Segeberg vor und lieferte der Norderstedter Kommunalpolitik nun erstmals eine belastbare Entscheidungsgrundlage für die Frage der Kreiszugehörigkeit.
All jene, die von einem kreisfreien Norderstedt träumten – mit eigenem Autokennzeichen (NOR), eigenen Ämtern für alle Belange des Zusammenlebens und endlich ohne finanzielle Verpflichtungen für die übrigen über 90 Städte und Gemeinde im Kreis Segeberg – dürften angesichts von Bögges gutachterlichen Erkenntnis nun verstummen.
Kreisverwaltung war nicht gerade kooperativ bei dem Gutachten
Bögge wertete das umfangreich gelieferte Datenmaterial der Stadt Norderstedt aus, konnte also viel zu Norderstedt und seiner Finanzkraft aussagen. Allerdings biss sich der Gutachter am Kreis Segeberg die Zähne aus. Trotz mehrfachen Anfragens und Nachhakens beantwortete die Kreisverwaltung zentrale Fragen Bögges nicht.
Kein Wunder. In Bad Segeberg werden die Kreisfreiheitsbestrebungen mancher Politiker mit Skepsis und Argwohn betrachtet. Schließlich – und zu diesem Schluss kommt auch Gutachter Bögge – wäre der Kreis Segeberg ohne die Transferaufwendungen der reichen Stadt Norderstedt gar nicht mehr handlungsfähig. 2022 überwies Norderstedt 42,3 Millionen Euro nach Bad Segeberg und damit fast 38 Prozent der Kreisumlage von 112 Millionen Euro.
Kreis wäre ohne Geld aus Norderstedt nicht handlungsfähig
Ohne Moos aus Norderstedt also nix los im Kreishaus. Entsprechend verstummten die Sachbearbeiter dort, als Bögge die Kostenblöcke im Sozialbereich, Rettungsdienst, der Klinikversorgung und vielen anderen wichtigen Daseinsbereichen abrufen wollte. Wer sägt schon am Ast auf dem er fest sitzt?
„Die Rückmeldungen waren sehr spärlich. Der Kreis Segeberg verwies auf einen längeren Erarbeitungsprozess und reagierte anschließend auf schriftliche Anfragen nicht mehr“, schreibt Bögge. „Das Jobcenter Norderstedt zeigte keinerlei Reaktion ebenso wie der Städteverband Schleswig-Holstein.“
Entsprechend gesteht Bögge aufgrund von Datenmangel Lücken in seinem Gutachten ein und folglich eine nur bedingte Aussagekraft. Diese reicht allerdings, um das Thema Kreisfreiheit politisch zu beerdigen. Zwar habe Norderstedt durchaus genug Geld, um sich eine Kreisfreiheit zu erkaufen, so Bögge. Aber davon müsste sie eben auch jede Menge in die Hand nehmen.
Ohne Kreisverwaltung müsste die Stadt 200 neue Leute einstellen
Die eingesparte Kreisumlage würde bei Weitem nicht ausreichen, um die enormen Investitionen und Folgekosten des Austritts aus dem Kreis zu wuppen. Bummelig 200 (kaum auf dem Arbeitsmarkt vorhandene) Verwaltungsfachkräfte müsste die Stadt bis 2032 einstellen, um all jene Bereiche zu bearbeiten, die bislang der Kreis für die Stadt übernimmt.
Im Bereich Jugendamt, Sozialamt, Asylbewerber oder Gesundheitsamt übernimmt die Norderstedter Verwaltung bereits Aufgaben des Kreises. Als kreisfreier Solist müsste sich die Stadt aber auch noch um Rettungsdienst, Führerscheinstelle, KFZ-Zulassung, Verbraucherschutz, Veterinärwesen, Lebensmittelüberwachung, Ausländerwesen, Heimaufsicht Schülerbeförderung und, und, und, und kümmern – die Liste ist lang.
Norderstedt müsste dem Kreis das Berufsbildungszentrum abkaufen
Jetzt schon platzt das Norderstedter Rathaus aus allen Nähten und Oberbürgermeisterin Elke Christina Roeder müsste quasi ein neues Rathaus bauen, um die neuen 200 Kolleginnen und Kollegen zu platzieren. Ach ja: Und das Berufsbildungszentrum müsste sie auch noch dem Kreis abkaufen. Und vielleicht auch endlich ein Krankenhaus bauen.
Auf die Kommunalpolitik käme im Übrigen auch eine Fülle von neuen Aufgaben zu. Viele neue Gremien müssten geschaffen werden und die ehrenamtlichen Politiker und Politikerinnen müssten deutlich mehr Lebenszeit investieren. Laut Gutachter Bögge wäre das ohne zusätzliche hauptamtliche Unterstützung aus dem Rathaus nicht zu schaffen.
Ohne Zustimmung von Land und Kreis wäre der Austritt sowieso nicht möglich
Last, but not least: Der Kreis und das Land müssten einem Austritt Norderstedts zustimmen, sonst wäre dieser rechtlich gar nicht möglich. „Rechtlich und faktisch erscheint damit eine mögliche Kreisfreiheit der Stadt Norderstedt zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen“, urteilt Raphael Bögge.
Doch am Ende der Debatte über die Kreisfreiheit bleiben dann aber doch noch offene Fragen bei Kritikern der Kreiszugehörigkeit. Etwa bei den Themen Bürgerfreundlichkeit und Verschlankung der Verwaltungsabläufe. Bögge sieht hier deutlichen Nachholbedarf.
Die Lösung: Mehr miteinander reden und schlankere Verwaltungsabläufe
Und so schließt er das Gutachten mit einem Lösungsweg für eine nicht aufgehobene, aber verbesserte Arbeitsgemeinschaft zwischen Stadt Norderstedt und Kreis Segeberg. „Es wäre sinnvoll, wenn die Stadt Norderstedt einen größeren Einfluss auf bürgerfreundliche und wohnortnahe Angebote bekommen würde“, sagt Bögge. Beratung und Bearbeitung von Ausländer- und Asylthemen sollten in Norderstedt angeboten werden, Norderstedt sollte größeren Einfluss auf die Sozialraumplanung bekommen.
Auch bei Verkehr, Natur- und Landschaftsentwicklung erscheint Bögge eine engere Beteiligung notwendig und sinnvoll. Um das zu erreichen, müsse die Kommunikation und der Austausch zwischen dem Kreis Segeberg und der Stadt Norderstedt stetig verbessert werden.
Norderstedt: Thema Kreisfreiheit ist „deutlich abgeräumt“
In einer ersten Reaktion auf das Gutachten ruft Katrin Fedrowitz, Kreisvorsitzende der SPD und Norderstedter SPD-Chefin dazu auf, den Umgang der Stadt Norderstedt mit dem Kreis Segeberg neu auszurichten. Die Politik sollte die Vorteile der Kreisangehörigkeit erkennen. Zwar sei man größter Zahler bei der Kreisumlage, profitiere aber in vielen Bereichen von der Unterstützung des Kreises.
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Etwa bei den Flüchtlingen. „Der Kreis hat hier frühzeitig von sich aus Verantwortung übernommen und die Kommunen unterstützt. In den Unterkünften in Schackendorf und Borstel werden die dem Kreis zugewiesenen Menschen zunächst untergebracht. Das verschafft uns Luft und wir haben den Ansturm nicht direkt in der Stadt.“
Fedrowitz sieht das Thema Kreisfreiheit vor den Kommunalwahlen „deutlich abgeräumt“ und hofft, dass sich die in Norderstedt für die Wahlen des Kreistages und der Stadtvertretung antretenden Parteien in aller Deutlichkeit für eine Kreisangehörigkeit aussprechen.