Norderstedt. Ärztegenossenschaft schlägt Alarm. Mit einem Aktionstag soll am Mittwoch auf die Situation aufmerksam gemacht werden.
Es brodelt im Gesundheitswesen. Das Jahr ist zwar neu, die alten Probleme aber geblieben. „Das System der ambulanten Versorgung droht zu kippen.“ Das warnt Dr. Axel Schroeder, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Ärztegenossenschaft Nord. Denn der Mangel an Fachkräften wird immer größer. Insbesondere fehlen Medizinische Fachangestellte – und ohne die funktioniert keine Praxis. Hierauf wird die Ärztegenossenschaft am Mittwoch, 11. Januar, mit einem Protesttag aufmerksam machen. Von 11 bis 12 Uhr sollen dann die MFA für 60 Minuten ihre Arbeit ruhen lassen.
„Die Protestkampagne dient der Aufklärung der Bürger. Eine Kommune ohne ärztliche Versorgung ist eigentlich keine vollwertige mehr. Es soll signalisieren, was es bedeutet, wenn uns qualifizierte Fachkräfte und Assistenzpersonal fehlen. Dann können wir nicht praktizieren“, so Schroeder.
Ärzte schlagen Alarm: „Das System der ambulanten Versorgung droht zu kippen“
Beim Arzt lange im Wartezimmer zu sitzen, kennt wohl fast jeder. Genau wie etliche versuchte Anrufe, ehe überhaupt ein Termin zustande kommen kann. Der Stress ist allgegenwärtig. Und darunter, das soll der Aktionstag verdeutlichen, leiden letztlich alle. Hannelore König ist die Präsidentin des VMF, des Verbands medizinischer Fachberufe – in dieser Gewerkschaft sind nicht nur MFA, sondern auch Angestellte aus Zahnarzt- oder Tierarztpraxen organisiert. Sie sagt: „Landes- und Bundesregierung dürfen nicht vergessen: Gesundheitsversorgung funktioniert ohne ambulante Versorgung nicht. Und hier arbeiten die MFA.“
Der Bedarf sei gestiegen. „Wir sehen die Situation des Mangels auch schon vor der Pandemie.“ Die Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf habe eine Studie zur Belastung gemacht. Das Ergebnis: „Die Stressbelastung ist vergleichbar mit anderen Gesundheitsberufen. Eine der Ursachen ist das Gehalt, und das Thema Wertschätzung durch die Öffentlichkeit, durch die Pandemie, durch die Patienten. Wir leben von der Kommunikation mit den Patienten, ziehen daraus unsere Arbeitszufriedenheit. Aber was in der Pandemie seit 2020 passiert ist: Immer mehr MFA kehren ihrem tollen Beruf den Rücken.“
Fast jede zweite MFA denkt daran, den Beruf aufzugeben
Sie zitiert zwei weitere Umfragen: 2017 hätten 22 Prozent darüber nachgedacht, den Job zu wechseln – im Februar 2022 waren es schon 46 Prozent. Das sei „erschreckend“. König: „Als Hauptgründe nennen sie die fehlende Wertschätzung durch die Politik. Beim Corona-Bonus wurden sie dreimal ignoriert. Wir versuchen als Verband seit Beginn der Pandemie klarzumachen, dass der Schutzwall vor den Kliniken ohne die Praxen nicht gehalten wird.“ Und wer in der Branche bleibt, wechselt möglicherweise in ein Krankenhaus in Hamburg – hier sind die Verdienstmöglichkeiten besser.
Dabei sei es ein Beruf „mit viel Verantwortung für die Versorgung“, so König. Gerade im hausärztlichen Bereich begleiten MFA die Menschen teilweise sehr, sehr lange.“
14.769 Personen sind in Schleswig-Holstein nach den aktuellsten Zahl der Agentur für Arbeit als MFA tätig. Davon 51,8 Prozent in Teilzeit. „Man kann Familie und Beruf wunderbar miteinander verbinden.“ Arbeitgeber könnten daher mehr über flexible Modelle sprechen. Und auch die Kommunen seien gefragt, etwa bei dem Bereitstellen von Kita-Plätzen.
Bundesverband: Land muss Beruf fördern
Im Mittel verdient eine MFA-Kraft 2655 Euro brutto in Vollzeit. „Damit erarbeitet sie im Arbeitsjahr nicht einmal einen Renten-Punkt. Honorarsteigerungen bewegen sich im Minimalbereich. Auch das Land muss Geld und Förderung in die Hand nehmen, um gerade in strukturschwachen Regionen Berufe wie die MFA zu fördern. Denn wenn noch mehr MFA den ambulanten Bereich verlassen, ist die Versorgung nicht mehr aufrechtzuerhalten.“
Und die ist sowieso schon in Schieflage, wie Dr. med. Svante Gehring, Hausarzt aus Norderstedt, berichtet. „Zwei Drittel unserer Mitglieder suchen Ärzte. Das ist systemimmanent, das ist die Regel. 2035 wird die Ärzteschaft geschrumpft sein, der demografische Wandel wird aber zu einer Verdichtung führen. Wir haben leider auch Abwanderungen aus Deutschland. Wir bilden teuer Medizinstudenten aus und müssen damit rechnen, dass diese abwandern.“
Studie: Bis 2035 werden 50 Prozent der Allgemeinmediziner in den Ruhestand gehen
Auch hier nehmen Teilzeit-Modelle zu. Gerade jüngere Ärztinnen und Ärzte sind weniger bereit, Überstunden zu leisten. 23 Prozent der niedergelassenen Ärzte sind angestellt laut Ärztegenossenschaft. Bis 2035 scheiden 50 Prozent der Allgemeinmediziner aus. Dann wird erwartet, dass 38 Prozent der Landkreise unterversorgt sind.
Die Überalterung in Zahlen: Von 1927 Hausärztinnen und Hausärzten in Schleswig-Holstein sind 620 mindestens 60 Jahre alt, 340 sind 65 oder älter – und das sind Daten von 2021.
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Laura Lüth, die Geschäftsführerin der Ärztegenossenschaft, sagt hierzu, dass der Ausbau von Studienplätzen nur eine langfristige Lösung sei. „Was hakt und hinkt, ist die Anpassung der Approbationsordnung. Hier ist es erforderlich, auch der Ambulantisierung der Medizin Rechnung zu tragen. Viele Ausbildungsinhalte werden in der ambulanten Versorgung abgebildet.“
Daher wird gefordert, dass Studentinnen und Studenten direkter in die haus- und fachärztliche Grundversorgung integriert werden. „Dazu gehört eine einheitliche, auskömmliche Vergütung im praktischen Jahr.“
Gesundheitswesen: Fachkräftemangel nicht nur im ländlichen Raum
Übrigens ist der Fachkräftemangel kein exklusives Problem des ländlichen Raums mehr. „Es kommt in den Städten an“, sagt Axel Schroeder. „Es ist im hausärztlichen Bereich sehr spürbar, aber auch im fachärztlichen, in der Neurologie, Frauenheilkunde, Augenheilkunde.“
Wie viele Praxen bei dem Aktionstag mitmachen, lässt sich derzeit nicht sagen. „Die Protestbereitschaft hat zwar zugenommen, aber viele Kollegen resignieren auch.“ Der Effekt werde spürbar sein. Svante Gehring: „Wir brauchen gar nicht so viel zu simulieren. Viele Praxen haben eh schon einen Mangel, haben Personalengpässe, Krankenstand. Die Patienten stehen vor der Tür, die Schlangen werden länger.“
Und auch Schroeder geht davon aus, dass schon 60 Minuten etwas sichtbar machen: „Da fehlt die Assistenz. Ein Arzt ohne Unterstützung wird nicht arbeiten können. Er ist auf sich allein gestellt. Dann geht keiner ans Telefon, es gibt auch keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.“