Norderstedt. Norderstedt sollte wegen seiner guten Debattenkultur an einem Pilotprojekt teilnehmen. Doch nicht jeder wollte das.

Die Norderstedter Politik hätte sich in einem bundesweiten Pilotprojekt der renommierten Körber-Stiftung zum Vorbild der politischen Debattenkultur in Deutschland machen können – und hatte dann leider keine Zeit dafür.

„Wir wollten die gute Diskussionskultur in Norderstedt als positives Beispiel darstellen“, sagt Projektleiterin Tanja Koop von der Körber-Stiftung in Bergedorf. Dazu sollte jeweils ein Mitglied der zurzeit acht Ratsfraktionen an zwei bis drei Workshop-Tagen unter dem Titel „Respekt im Rat“ teilnehmen und gemeinsam „einen Kodex entwickeln, wie man gut und respektvoll in einer Stadtvertretung miteinander umgeht“, ergänzt Sven Tetzlaff, der bei der renommierten Körber-Stiftung den Bereich „Demokratie, Engagement, Zusammenhalt“ leitet.

Norderstedt: Warum die Stadt doch kein Vorbild für Deutschland wird

Es wäre ein Zeitaufwand von acht bis zehn Stunden gewesen. Doch dazu wird es nicht kommen. Zwar hat sich eine Mehrheit im Hauptausschuss der Norderstedter Stadtvertretung für die Teilnahme an dem Pilotprojekt ausgesprochen. Da aber die Fraktionen von CDU und WiN dagegen stimmten, musste die Stadt das Vorhaben absagen. Weil es nur Sinn mache, wenn alle Fraktionen mitmachten, waren sich alle einig.

„Nun werden wir uns eine andere Kommune suchen und sind bereits mit einigen in Mecklenburg-Vorpommern im Gespräch“, sagt Fachbereichsleiter Tetzlaff. „Wir wollten eine Ratsversammlung, wo nicht so polarisiert diskutiert wird.“ Norderstedt hätte dafür ein Paradebeispiel, ein Vorzeigemodell sein können. Aber eine gewisse Bereitschaft, über die Gesprächskultur zu sprechen, müsse schon vorhanden sein.

Prof. Friedemann Schulz von Thun sollte das Seminar leiten

Die Vertreter von SPD, FDP, Grünen, Die Linke, Freie Wähler und AfD bedauern diese Absage. „Ich hätte es total interessant gefunden und finde es traurig, dass wir jetzt nicht mitmachen“, sagt FDP-Fraktionschef Tobias Mährlein. Zumal mit Professor Friedemann Schulz von Thun ein sehr renommierter Kommunikationspsychologe das Seminar leiten sollte.

„Da kann man immer etwas mitnehmen und für sich lernen“, ist Mährlein überzeugt. Auch SPD-Fraktionschef Nicolai Steinhau-Kühl bedauert die Absage. „Es wäre schön gewesen, wenn wir als Stadt dabei gewesen wären, wo es relativ gut läuft. Wir hätten gerne mitgemacht.“

„Wäre eine interessante Veranstaltung gewesen, die den Horizont erweitert hätte“

Auch Linken-Fraktionschef Miro Berbig findet es schade, dass Norderstedt sich nun ausgeklinkt hat. „Es wäre eine sehr interessante Veranstaltung gewesen, die den Horizont erweitert hätte. Man wird immer schlauer.“ AfD-Fraktionschef Sven Wendorf sagt: „Es ist auch schade für die anderen Kommunen, die sich an Norderstedt hätten ein Beispiel nehmen können.“

Denn das politische Klima und der Ton der Auseinandersetzung im Norderstedter Rat seien recht gut und kämen ohne Schärfe und Beleidigungen des politischen Gegners aus, sagen alle. „Wir reden respektvoll und vernünftig miteinander“, sagt Berbig. Persönliche Angriffe wie zu Zeiten von Jürgen Lange, Johannes Paustenbach (beide SPD) oder Günther Nicolai (CDU) seien längst passé.

Herabwürdigende Äußerungen gehörten der Vergangenheit an, so Berbig. „Wir streiten manchmal hart in der Sache, ohne persönlich zu werden.“ Das bestätigt Mährlein. „Wir haben da kein Problem. Bei uns geht es relativ gut und gesittet zu. Wir beleidigen uns nicht.“ Die Norderstedter Kommunalpolitik habe auch den Anspruch, respektvoll zu debattieren, sagt Steinhau-Kühl.

CDU-Mann hat „keinen Bock auf pädagogischen Zeigefinger“

Aber gerade weil es hier so gut und fast harmonisch im kommunalpolitischen Miteinander laufe, habe er keinen Sinn darin gesehen, einen Workshop zur Debattenkultur zu besuchen, sagt CDU-Stadtvertreter Uwe Matthes. „Auf diesen pädagogischen Zeigefinger, wie man sich in der Politik zu verhalten hat, habe ich keinen Bock drauf.“ Dafür sei er zu alt und zu lange dabei, sich hier von außen etwas „aufoktroyieren“ zu lassen, sagt Matthes. „Das politische Klima in der Stadtvertretung ist absolut erträglich.“

WiN-Fraktionschef Reimer Rathje sieht es ähnlich. „Wir sehen keine Notwendigkeit dafür.“ Es gebe dringendere Probleme zu lösen wie den Haushalt und die Kommunalwahl im Mai stünde vor der Tür. „Wir haben bis Jahresende so viele Sitzungen. Da wird es einfach zu viel“, findet Rathje. Zumal in Norderstedt „eine gute Diskussionskultur“ herrsche. Somit sei es nicht dringend geboten, sich darüber austauschen und belehren zu lassen.

Norderstedt: „Zu viel Einigkeit und Harmonie sind auch nicht gut“

Für Tobias Mährlein aber hätte das Pilotprojekt „Respekt im Rat“ auch die Grenzen beleuchten können, wie eine politische Streitkultur interessant und respektvoll gestaltet sein kann, auch wenn sie mal hitzig geführt wird. „Man darf nicht unter die Gürtellinie gehen. Aber ich bin für eine Zuspitzung.“

So vermisse er zum Beispiel im Kieler Landtag die oft scharf geführten Streitdebatten zwischen Ralf Stegner (SPD) und Wolfgang Kubicki (FDP), die beide jetzt im Bundestag sind. Die hätten das Kieler Parlament erst spannend gemacht, findet Mährlein.

„Zu viel Einigkeit und Harmonie sind auch nicht gut. Das stärkt die politischen Ränder. Ein wenig mehr deutliche Worte in der Norderstedter Stadtvertretung würden uns gut zu Gesicht stehen.“