Norderstedt. Vereine erteilen reihenweise Absagen. Bäder sparen Energie. Es fehlt an warmem Wasser und Hallenzeiten.
„Das hat mir immer so gut getan. Von Mal zu Mal ist es besser geworden“, sagt Renate Scheibig. Die 79-jährige Norderstedterin leidet unter Gelenkschmerzen nach Hüft-, Knie- und Schulter-OPs. Mit Wassergymnastik kämpfte sie gegen die Schmerzen an. Doch seit zweieinhalb Jahren war Gymnastik im warmen Wasser für Renate Scheibig nicht mehr möglich.
So wie der Norderstedter Rentnerin geht es zurzeit vielen Reha- und Rheuma-Patienten in Norderstedt und im Kreis Segeberg, die nach einem orthopädischen Eingriff mit medizinischer Wassergymnastik von fachlich ausgebildeten Übungsleitern ihren Gesundheitszustand verbessern wollen.
Norderstedt: Reha-Patienten verzweifelt: Wassergymnastik unmöglich
„Wir mussten den 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Wassergymnastik-Kurse jetzt endgültig absagen“, sagt Tobias Claßen, Geschäftsführer von TuRa Harksheide, mit 3600 Mitgliedern größter Sportverein in Norderstedt. „Weitere 60 Damen und Herren hatten wir bereits auf der Warteliste“, sagt Silke Sichau, die bei TuRa seit 20 Jahren für den Reha-Sport zuständig ist.
Erst war es der allgemeine Corona-Lockdown, der ihnen monatelang keine Schwimmhallenzeiten ließ. Dann die Abstandsregeln, die in einigen Bädern immer noch gelten. Und jetzt kommen die Absagen an die Wassergymnastik wegen der dafür benötigten hohen Wassertemperatur von 30 Grad Celsius. Denn in der aktuellen Situation auf dem Energiemarkt ist das starke Aufheizen von Schwimmbecken ein kostspieliges Unterfangen.
Wasser auf 30 Grad heizen – das wird zu teuer
Geschäftsführer Claßen und Reha-Sport-Expertin Sichau hatten gehofft, dass sie ihre wöchentlichen fünf Kurse mit jeweils 15 bis 20 Teilnehmern im Sommer wieder anbieten. Doch Fehlanzeige. Weder in Norderstedt noch in Hamburg seien ihnen dafür Hallenbadzeiten angeboten worden. Nur kurzfristig hätten sie das Schulbad am Hasenstieg nutzen können.
Ihr Stammbad im einem Fitnessstudio in Langenhorn habe ihre Anfrage erneut negativ beschieden, erklärt Claßen. „Dabei sind unsere Teilnehmer dort immer sehr zufrieden gewesen.“ Wegen der dort noch geltenden Abstandsregeln könnten sie zurzeit keine Wassergymnastikkurse für externe Nutzer anbieten, sagt eine Mitarbeiterin des Studios auf Nachfrage des Abendblatts. Darum könnten sie bis auf weiteres die Wassergymnastik nur zahlenden Mitgliedern anbieten und müssten anderen Vereinen leider absagen.
Die Schwimmausbildung der Kinder geht in vielen Bädern vor
In Norderstedt sieht es nicht besser aus. Die hohen Wassertemperaturen für den Reha-Wassersport ließen sich vor dem Hintergrund der „aktuellen Energiekrise und den damit erforderlichen Einsparerfordernissen kurzfristig nicht realisieren“, teilt Stadtsprecher Fabian Schindler mit.
Für das Schuljahr 2022/23 liefen bei der Stadt die Planungen für das Lehrschwimmbecken Friedrichsgabe. Und im Arriba für die Schwimmhalle auf dem Gelände des Arriba. Als Nachwirkung der letzten beiden Corona-Jahre, so Schindler, gebe es einen sehr hohen Bedarf an Schwimmhallenkapazitäten für die Schwimmausbildung von Kindern. Man könne davon ausgehen, dass generell für den Reha-Sport nicht mehr so viel Kapazität übrig bleibe. Die Schwimmausbildung von Kindern konkurriert also mit der Wassergymnastik für die Seniorinnen und Senioren.
Im Herbst und Winter wird sich das Problem verschärfen
Auch auf Kreisebene sind fehlende Hallenbadzeiten ein großes Problem, erklärt Mike Lehmann, Sportlehrer beim Kreissportverband Segeberg, der 60.000 Sportler in 202 Vereinen vertritt. „Es sieht überall nicht gut aus“, sagt er. Zu den eingeschränkten Hallenzeiten kämen nun auch noch Sanierungsarbeiten in einigen Bädern wie in Bad Segeberg erschwerend hinzu, das deshalb zurzeit geschlossen sei, sagt Lehmann. Er sieht die öffentliche Hand, das Land und die Kommunen in der Pflicht.
Der Corona-Lockdown habe die Schwimmkurse für die Kinder zum Erliegen gebracht. „Das betrifft die Vereine und die Schulen“, sagt Lehmann. Das träfe nun auch im verstärkten Maße den Reha-Sport. Und die Aussicht zum Winter hin sei alles andere als rosig, so Lehmann. „Da wird in vielen Hallen das Wasser kalt bleiben, um Energie zu sparen. Dann verschärft sich das Problem.“
Leidtragenden sind die Seniorinnen und Senioren
Die Leidtragenden sind die Seniorinnen und Senioren. „Mit meinem Rücken ist es wieder schlimmer geworden“, klagt Renate Scheibig. Sie musste erneut am Spinalkanal operiert werden. „Mit der Wassergymnastik war ich fit. Das war wirklich super.“ Das Wohlbefinden gestärkt habe auch die Gemeinschaft mit den anderen Kursteilnehmern. „Und qualifizierte Übungsleiter hatte TuRa immer dabei.“
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Auch Jens Rosinsky ist verzweifelt. Sein Hausarzt hat ihm vor zwei Jahren nach einem schweren Bandscheibenvorfall Wassergymnastik verschrieben, sagt der 55 Jahre alte Norderstedter. Seitdem suche er vergeblich nach Kursen in Norderstedt und Umgebung. In Kaltenkirchen gebe es dafür Wartezeiten von eineinhalb Jahren. Die Absage von TuRa jetzt hat ihn schwer enttäuscht. „Ich bedauere das sehr“, sagt Rosinsky, der für seinen Rücken und sein extremes Übergewicht dringend die Wassergymnastik bräuchte.
Norderstedt: Die Stadt will an einer Lösung arbeiten
„Wer Gelenkschmerzen, rheumatische Beschwerden und Rückenprobleme hat, braucht dies Kurse, um wieder gesund zu werden“, erklärt Silke Sichau von TuRa Harksheide. „Und der Bedarf wird in den nächsten Jahren bestimmt nicht weniger.“ Die Krankenkassen schickten seit vielen Jahren ihre Patienten zu TuRa.
Stadtsprecher Schindler kündigt an, dass die Stadt Norderstedt alles tun werde, um zu helfen. „Die Situation ist für die Betroffenen auch aus Sicht der Stadtverwaltung sehr bedauerlich, daher ist die Stadt Norderstedt auch im Gespräch mit TuRa Harksheide, um hier mittelfristig Lösungen zu suchen, damit Reha-Wassersport in Norderstedt wieder angeboten werden kann.“