Norderstedt. Familie Holle hat einen Teil ihrer Verwandtschaft aus der Ukraine in Norderstedt vor dem Krieg in Sicherheit gebracht.

Mitten in der Nacht heulen die Sirenen auf. Olena und Peter Holle schrecken hoch, brauchen einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie liegen in ihrem Bett in Norderstedt. Das Geräusch kommt aus dem Wohnzimmer. Dort schläft Olena Holles Schwester, Zhanna, mit ihrem Sohn seit drei Wochen auf einer aufblasbaren Matratze. Ihr Handy schlägt Alarm. Sie hat eine App installiert, die die Bewohner von Iwano-Frankiwsk, einer Stadt im Westen der Ukraine, vor Luftangriffen der Russen warnt. Bis vor Kurzem hat sie dort noch gewohnt. Ein ganz normales Leben geführt. Bis sie alles zurückgelassen hat – ihre Eltern, ihren Mann, Hund Bilochka.

Ukraine-Flüchtlinge in Norderstedt: Die Angst ist groß

Vier Tage lang ist sie mit ihrem 14-jährigen Sohn Andrii ins knapp 1200 Kilometer entfernte Norderstedt zu ihrer Schwester geflüchtet. „Sie wollte ihr Land nie verlassen. Aber mein Neffe hat Ängste entwickelt – dann sind sie aufgebrochen“, erzählt Olena Holle. In Norderstedt sind sie jetzt in Sicherheit. Die Warn-App auf ihrem Handy bräuchte Zhanna nicht mehr. Sie könnte sie einfach löschen, um sich nicht noch mehr Sorgen als ohnehin schon um ihre Familie im Kriegsgebiet zu machen. „Ich habe gesagt, sie soll die App abschalten. Aber das will sie nicht. Meine Schwester ruft ältere Menschen in der Ukraine an und fragt nach, ob sie den Alarm mitbekommen haben. Damit sie sich vor den Raketen verkriechen können“, berichtet Olena Holle. Mehrmals am Tag, oft mehrere Stunden lang heulen die Sirenen in Iwano-Frankiwsk – und in Norderstedt.

Olena und Peter Holle sind beim Besuch des Abendblattes mit ihrer siebenjährigen Tochter Lina Katharina alleine zu Hause. Schwester und Neffe erkunden in Hamburg die Gegend. „Natürlich ist es eine Umstellung, zu dritt oder zu fünft zusammen zu wohnen. Wir haben zum Glück aber viel Platz“, sagt Peter Holle. Er sitzt am Esstisch im Wohnzimmer und blickt auf das provisorische Bett in der Ecke. Normalerweise baut er die Matratze für Gäste auf, die ein bis zwei Nächte bei ihnen bleiben wollen. Dann verstaut er sie wieder in der Garage. Wie lange seine Schwägerin bei ihnen leben wird, ist nicht abzusehen. „Viele denken, dass der Krieg in drei Wochen vorbei ist und sie endlich wieder zurück in ihr Land können. Ich hoffe, dass es schnell geht – aber das ist Wunschdenken.“ Jedem hilfsbereiten Menschen, der ukrainische Flüchtlinge bei sich aufnimmt, sollte klar sein: „Das ist kein Gast für eine Woche“, stellt Holle klar.

Ukraine-Flüchtlinge: Zwischen Angst und Heimweh

Frau Olena sucht derzeit fieberhaft einen Sportverein für ihren Neffen. Ein Ventil. Sie ist der Meinung, dass ihm Ablenkung gut tun würde. Andrii spricht nicht über seine Ängste. Der Jugendliche redet nicht über die schrecklichen Bilder, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben. Wenn ein Flugzeug am Haus der Holles vorbeifliegt, zuckt er zusammen. „Seit einigen Tagen hat er extremes Heimweh entwickelt. Mein Neffe hat ein super Verhältnis zu seinem Vater, er vermisst ihn sehr“, erzählt die 40 Jahre alte Olena Holle. Wie alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren muss auch sein Vater in der Ukraine bleiben. Noch befüllt er als freiwilliger Helfer Sandsäcke zum Schutz der Soldaten. „Aber er könnte jederzeit eingezogen werden und kämpfen“, weiß Olena Holle. So wie ihr Bruder, von dem sie nur selten hört, weil er ihr Heimatland mit seinem Leben verteidigt. Ihre Eltern wollen in seiner Nähe bleiben.

Die gebürtige Ukrainerin, die vor 20 Jahren als Studentin nach Deutschland kam und sich eine eigene Praxis für Osteopathie und Physiotherapie aufbaute, hat ihrem Neffen Andrii vorgeschlagen, im Hochseilgarten klettern oder im Stadtpark Wasserskilaufen zu gehen. Sie möchte ihn aufmuntern und auf andere Gedanken bringen. „Doch er sagt, er will nicht. Er will nur nach Hause.“

Plötzlich lag ein Umschlag mit Geld im Briefkasten

Doch es gibt etwas, das Familie Holle Hoffnung macht. Ihr Mut gibt: die überwältigende Hilfsbereitschaft, die sie erfährt. Als das Abendblatt zum ersten Mal über Olena Holle und ihre Sorgen um ihre Familie in der Ukraine berichtete, meldeten sich wildfremde Menschen bei ihr, um entweder Hilfe anzubieten oder ihr einfach alles Gute zu wünschen. „Wir haben einen ganzen Ordner voll mit Hilfsangeboten.“ Peter Holle scrollt auf seinem Handy durch das Postfach, öffnet einzelne E-Mails. Ein Mann bot an, sich frei zu nehmen und Holle an die ukrainische Grenze zu begleiten, um die Familie abzuholen. Ein anderer wollte einen Transporter zur Verfügung stellen, eine Frau möchte kostenlose Klavierstunden geben, eine andere Puppen nähen. Sogar einen Umschlag mit Geld haben die Holles in ihrem Briefkasten gefunden. Frühere Patienten, die Olena Holle zuletzt vor drei Jahren behandelt hat, haben unaufgefordert Spenden auf ihr Konto überwiesen, die sie plötzlich entdeckte.

„Mir fällt es schwer, Hilfe anzunehmen. Ich habe mir immer alles allein erarbeitet.“ Die Ukrainerin packt Aufgaben lieber selbst an, bevor sie jemanden um Unterstützung bittet. Die Hilfsbereitschaft der anderen zuzulassen, musste sie erst lernen. „Ich kann kaum Worte dafür finden. Ich finde es wahnsinnig rührend. Das geht extrem in die Tiefe. Wildfremde Menschen helfen einem. Bei allem Schlechten, das gerade passiert: So etwas zu erleben ist schön“, sagt Olena Holle. Ihr Mann nickt. „Es sind am Anfang viele Tränen geflossen.“ Es fällt ihm schwer, die Fassung zu wahren, als er diesen Satz ausspricht.

Hilfsbereitschaft ist groß

Als CDU-Politiker und Stadtvertreter in Norderstedt streitet er sich gern und oft mit Mitgliedern der anderen Parteien und der Verwaltung. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach und die Russen begannen das Heimatland seiner Frau zu zerstören, hat er sich aus der Politik eine Woche lang zurückgezogen. Sich von sämtlichen Ausschüssen abgemeldet. Er brauchte jegliche Zeit und Energie für seine Familie. „Mein Mann hat mich nicht zu 100, sondern zu 300 Prozent unterstützt“, sagt Olena Holle.

Sie ist eine starke, toughe Frau. Sie kommt gut alleine klar. Aber natürlich gebe es auch Momente, in denen ihr zum Weinen zumute wäre. „Aber es hilft niemandem, wenn ich in Depressionen verfalle“, sagt sie. „Ich weiß nicht, was morgen passiert. Deswegen sollten wir das Hier und Jetzt genießen und dankbar sein.“ Sie freut sich über die Zeit, die sie mit ihrer Familie verbringen darf – nun auch mit Zhanna und Andrii. Sie essen gemeinsam, spielen Gesellschaftsspiele. Sirenen heulen nicht mehr im Haus. Ihre Schwester hat den Ton der Warn-App ausgestellt. Löschen will sie den Alarm nicht. Sobald eine Benachrichtigung eingeht, ruft sie zu Hause an. Ihre Gedanken sind in der Ukraine. In ihrer Heimat.