Norderstedt. Ohnmächtig erlebt die Ukrainerin Olena Holle aus Norderstedt den Krieg, krank vor Angst um ihre Familie in Iwano-Frankiwsk
Olena Holle (40) dachte bis vor einer Woche, sie sei eine starke Frau. „Ich hatte eine schwere Kindheit und habe einiges durchgemacht.“ Sie glaubte, einstecken zu können, durchhalten zu können, gewappnet zu sein. Sie verließ ihre Heimatstadt Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine, nahe der Karpaten. Ging nach Deutschland, traf hier ihren Mann Peter Holle und baute sich in Norderstedt eine Praxis für Physiotherapie und Osteopathie auf. Und seit sieben Jahren gibt es Töchterchen Lina Katharina, die das Norderstedter Paar zu einer glücklichen Familie machte. Olena Holle hatte also allen Grund zu denken, sie sei eine starke Frau.
Dann bricht der Krieg aus in der Ukraine.
„Am ersten Tag des Krieges versuchte ich mich stabil zu halten“, sagt Olena Holle. Mit Beherrschung versucht sie ihre Angst um die Familie in Iwano-Frankiwsk einzuhegen. Dort leben die Eltern, beide in ihren 70ern, die Geschwister – eine Schwester und der ältere Bruder mit ihren Partnern, dazu die beiden Nichten und Neffen. Am 24. Februar schlagen russische Raketen auf dem Flughafen von Iwano-Frankiwsk ein. Auf Instagram sind die Videos zu sehen. Der Feuerball nach dem Einschlag. Die geschockten Kommentare der Menschen. Der Moment, in dem ein Volk aus dem friedlichen Alltag gerissen und sich der Gewissheit kommender Kriegsgräuel gewahr wird.
Olena Holle telefoniert mit den Eltern, spürt die Angst in deren Worten. Hört vom großen Bruder (48), der sich sofort für seine Ukraine, für die Freiheit und gegen die Russen zum Kampf bekannte und zur Armee aufgebrochen war. „Schon im Donbas war er im Einsatz gewesen, kam damals schwer verletzt zurück. Er überlebte. Nun geht er wieder rein“, sagt Olena Holle. Sie hört von den Sirenen, die in Iwano-Frankiwsk heulen und von tschetschenischen Kämpfern, die den Eltern plötzlich in der Stadt begegnen. Spricht mit ihrer Schwester und dem Schwager, die mit ihrer ganzen Seele ihr Land verteidigen wollen und wirklich bereit sind, alles dafür zu tun. Und von Kindern, die ängstlich bitten: Papa, lass uns hier nicht allein! „Meine Familie durchlebt gerade Todesangst“, sagt Olena Holle.
Der Krieg macht klar, was wichtig ist im Leben
Und dann stellt sie sich eines Abends unter die Dusche in ihrem Haus in Norderstedt, macht sich bereit für die Nacht, liegt schließlich in ihrem Bett unter ihrer Decke. Und dann schlägt die Erkenntnis in ihre Seele ein, wie die russische Rakete in den Flughafen ihrer Heimatstadt, die Gefühle brechen sich Bahn und reißen die Beherrschung mit sich. „Ich habe es voll wahrgenommen.“ Sie war ganz bei ihren Eltern und der Familie. „Wie sie sich in einem dreckigen Keller kauernd vor den Raketen der Russen in Sicherheit bringen, wie die Sirenen heulen.“ Der Krieg wird für Olena Holle mitten in Norderstedt Realität und sie fühlt sich schwach, verletzlich und ohnmächtig. „Ich musste 40 Jahre alt werden und das nun erleben, um wirklich zu begreifen was wichtig ist im Leben.“
Für Olena Holle ist das kein lapidar dahergesagtes Lippenbekenntnis. Es ist eine existenzielle Erfahrung im Angesicht der Möglichkeit, ihre ganze Familie verlieren zu können. „Ich habe einen tollen Mann an meiner Seite, wir sind seit 15 Jahren verheiratet – aber ich umarme ihn seit einer Woche ganz anders“, sagt Olena Holle. Und wenn sie ihre kleine Tochter drückt, sagt diese: „Mama, du bist so anders?!“
Die Mutter kocht für die Armee, die Nichte flieht nach Norderstedt
Mittlerweile hat Olena Holle die Angst in Energie umgewandelt. Versucht der Familie zu helfen, wo es geht. „Meine 21-jährige Nichte hat es nach Polen geschafft, sie kommt zu uns nach Norderstedt.“ Ihre Eltern dazu zu bewegen, das Haus in Iwano-Frankiwsk zu verlassen und ebenfalls nach Deutschland zu kommen, das hatte sie schon aufgegeben. „Ich versuche nicht mehr, sie zu überreden. Ich verstehe sie ja. Sie wollen dort nicht alles zurücklassen. Das Haus nicht und auch die Familie nicht. Die psychische Belastung wäre für meine Eltern hoch.“ Die Eltern engagieren sich stattdessen in der Stadt. „Meine Mutter kocht für die Männer der Armee.“
In Norderstedt versucht Olena Holle gemeinsam mit ihrem Mann Geld zu sammeln. „Ein großes Problem vor Ort ist die Ausstattung. Die Menschen werden ohne Schutzausrüstung in die kriegerischen Gebiete geschickt“, sagt Peter Holle. „Die Jungs gehen in Turnschuhen in den Krieg. Mein Bruder berichtete mir, dass sie dringend Nachtsichtgeräte brauchen könnten. Die versuchen wir nun zu kaufen“, sagt Olena Holle. Die weltweiten Lieferungen der Regierungen kämen für viele Kämpfer zu spät. „Zurzeit versuchen wir über Kontakte an Schutzwesten und Schutzhelme zu kommen“, sagt Peter Holle. „Bei all der inneren Zerrissenheit und Unruhe gibt es aber einen Lichtblick in dieser düsteren Zeit: die nie dagewesene und nahezu weltweite Solidarität und der Zusammenhalt!“ Olena Holle ist überwältigt von der Reaktion der Deutschen. „Patientinnen rufen an, Nachbarn, wir werden mit Angeboten und Anteilnahme überschwemmt. Es ist großartig.“ Ihr Mann berichtet, es hätten sich viele Personen bei ihnen gemeldet, die sofort und ohne Gegenleistung Kriegsflüchtlinge unterbringen würden. „Selbst aus ganz unerwarteten Ecken haben wir Angebote für Fahrten zur polnischen Grenze bekommen. Wir könnten zu jeder Tages- und Nachtzeit mindestens sieben Fahrzeuge losschicken“, sagt Peter Holle.
Noch weiß niemand, wie viele Geflüchtete in Norderstedt oder im Kreis Segeberg ankommen werden. Einige wenige sind schon da, die große Welle wird erwartet. „Wir müssen uns auf traumatisierte Menschen gefasst machen“, sagt Olena Holle. Frauen und Kinder, die ihre Männer, Väter und Brüder im Krieg zurückließen, die hier in der Sicherheit Deutschlands unter der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen leiden werden. „Doch die Ukrainer sind nicht anspruchsvoll, sie erwarten nicht viel, vor allem nicht, dass man alles für sie regelt“, sagt Olena Holle. „Ukrainer wollen nicht auffallen, passen sich gerne an. Sie werden schnell die Sprache lernen und arbeiten wollen, damit sie keinem auf der Tasche liegen.“ Olena Holle kennt das aus eigener Erfahrung. „Ich war auch mal die Ausländerin in diesem Land, die kam und dankbar war, in Deutschland aufgenommen zu werden.“
Der Krieg kommt näher, die Familie will sich retten
Am Freitag schließlich spitzt sich die Lage in Iwano-Frankiwsk offenbar dramatisch zu. Der Krieg frisst sich immer mehr und immer stärker in Richtung Westen, immer näher an Iwano-Frankiwsk heran. Am Freitag schließlich meldet sich die Schwester von Olena Holle in Norderstedt. Sie möchte raus aus dem Land. Und sie versuche die Eltern mitzunehmen. Nun werden sie vielleicht doch alles zurücklassen müssen. „So wie es aussieht, werden wir voraussichtlich Anfang nächster Woche die Familie abholen. Die Lage wird immer unübersichtlicher und gefährlicher. Wir fahren mit mehreren Fahrzeugen und nehmen möglicherweise auch noch Bekannte der Familie mit“, sagt Peter Holle. „Im Grenzgebiet herrscht völliges Chaos. Aber wir hoffen, dass alles gut geht.“
Für die Unterbringung der Geflüchteten in Norderstedt nimmt Olena Holle gerne Angebote unter olena.holle@web.de entgegen.