Hamburg. Kiten und turnen geht auch mit nur einem Arm. Jetzt stellt der Norddeutsche auch erfolgreich Armprothesen aus dem 3-D-Drucker her.
Er war der Junge, der immer auf die höchsten Bäume kletterte. Der, noch bevor er in die Schule kam, Salto und Flickflack konnte. Besser als alle anderen. Er war der, der so lange auf dem Motorrad übte, bis er auf dem Hinterrad fahren konnte. Als Einziger in seiner Clique. Philipp Barluschke lacht, wenn er darüber spricht. Er könne eben ziemlich viele Sachen ziemlich gut im sportlichen Bereich, sagt der schmale junge Mann. Und ja, „ich wollte auch immer noch einen draufsetzen“. Er ist auch geprüfter Tauchlehrer und erfolgreicher Kitesurfer. Und der, dem von Geburt an der rechte Unterarm fehlt. Philipp Barluschke ist der Onehandman.
Jetzt steht der 29-Jährige in einem Geschäft mit gelben Wänden in Bredstedt. Zu Begrüßung gibt es einen kräftigen Händedruck. Mit links. Dem normalen Arm, dem mit trainiertem Bizeps und Tattoo. Seit vergangenem Jahr ist Philipp Barluschke auch Unternehmer. Der gelernte CAD-Designer produziert mit einem von ihm entwickelten Verfahren Armprothesen mit 3-D-Scanner und Drucker – anatomisch genau angepasst und mit sehr weichem Schaftansatz. Er kennt sich eben aus mit künstlichen Gliedmaßen.
Prothesen haben ein Luftkühlsystem
BarluParts 3D hat er seine Firma genannt. Seine Prothesen haben ein Luftkühlsystem und sehen lebensechter aus als herkömmliche. Inzwischen kommen Anfragen aus ganz Deutschland. „Ich habe eine Warteliste mit bald 20 Kunden“, sagt der Gründer, der sich den Laden mit Freundin Veronika Hinsch und ihrem Schönheitssalon teilt. Ein modernes Geschäftshaus am Markt der nordfriesischen Kleinstadt, 150 Quadratmeter im Erdgeschoss.
Im Eingangsbereich liegen in einem Glasregal künstliche Arme. Erinnerungen an frühere Zeiten. Es gibt fünf Räume. In einem sitzt Lise Petersen. Zusammen mit ihrem Vater ist die Zwölfjährige an diesem Morgen aus dem 20 Kilometer entfernten Haselund gekommen. Lise hat auch eine Dysmelie, so heißt die angeborene Fehlbildung von Gliedmaßen in der Medizinersprache. Ihr fehlt der linke Unterarm. Einen Ärmel ihres Sweatshirts hat sie hochgekrempelt.
Seltene Krankheit in Deutschland
„Ich habe schon eine Prothese, aber leider sitzt und funktioniert sie nicht so, wie sie sollte“, sagt sie. Sie benutzt sie selten oder nie, macht alles mit rechts. Schuhe binden, Schlagzeug spielen, Speer werfen. Die Gymnasiastin ist eine erfolgreiche Leichtathletin, holte in ihrer Altersklasse schon mehrfach den Titel Deutsche Meisterin bei Wettkämpfen der Para-Leichtathleten und trainiert neben dem Heimatverein im Nachwuchs-Leistungskader der Deutschen Behindertensportjugend. „Ohne Prothese“, sagt ihr Vater Jan Petersen, „gibt es eigentlich fast nichts, was Lise nicht kann. Das Tragen ihrer bisherigen Prothese ist für Lise eine Behinderung.“ Deshalb sind sie gekommen. Philipp Barluschke ist auch ein Mutmacher.
Dysmelie ist eine seltene Krankheit. In Deutschland werden 100 Kinder im Jahr mit der Fehlbildung geboren. Mal fehlt eine Hand, mal ein Arm, mal nur ein Finger. 90.000 Betroffene gibt es Schätzungen zufolge. Die Ursachen können genetisch sein, Infektionen bei Schwangeren oder Sauerstoffmangel des Embryos. Auch Nebenwirkungen von Medikamenten können für eine Dysmelie verantwortlich sein. Das bekannteste Beispiel sind die Folgen der Einnahme des Schlafmittels Thalidomid, das den Contergan-Skandal auslöste.
Glückliche Kindheit
Philipp Barluschke weiß nicht, warum er ohne Unterarm geboren wurde, sein – eineiiger – Zwillingsbruder Patrick aber mit. Eine Laune des Schicksals? „In der Familie gab es das vorher nicht“, sagt seine Mutter Doris Thamsen. Und auch nicht danach. Sie hat während der Schwangerschaft auch keine Medikamente genommen, die in Verdacht stehen, eine Dysmelie auszulösen. Auf den Ultraschallbildern gab es nichts Auffälliges. „Später haben sie uns gesagt, dass die Nabelschnur den Arm abgeschnürt hat“, sagt die 51-Jährige. Inzwischen wurde diese Theorie widerlegt. Und eigentlich ist es auch egal.
Seine Kindheit sei glücklich gewesen, sagt Barluschke. Unbeschwert. „Ich fand mich ja völlig normal.“ Mit 1,5 Jahren bekam er die erste Kinderprothese, eine sogenannte Patschhand ohne Bewegungsfunktionen. Die erste myo-elektrische gab es mit vier Jahren. Philipp lernte sein Leben mit links zu meistern. Geht nicht gab’s nicht. „Wir haben ihn nicht in Watte gepackt“, sagt seine Mutter. Wenn er nicht auf das Schaukelbrett kam, hat sie ihn erst mal probieren lassen. Irgendwann klappte es. Sie sagt auch: „Die anderen haben ihn zum Behinderten gemacht mit ihren Blicken und Bemerkungen.“ Kleine Nadelstiche, schlimmer für die Mutter als den Sohn.
Bei BarluParts 3D sitzt Lise an einem Tisch in einem Büro. An der Wand hängt ein großer Bildschirm. Falk Lohmann, Mitarbeiter des Bredstedter Sanitätshauses Schütt & Jahn, ist dazugekommen. An dem Armstumpf der Zwölfjährigen sind Elektroden angebracht, damit misst er die Muskelspannung und ermittelt die ideale Position für die elektrische Steuerung der Prothese. Damit Lise später den Arm heben kann, ihn drehen, anwinkeln, die Finger der künstlichen Hand bewegen. Alles das, was sie mit dem anderen Arm auch macht. Die Kooperation mit dem Sanitätshaus ist wichtig, weil auf diesem Weg die Qualitätssicherung und die Abrechnung mit den Krankenkassen laufen.
„Prothesenbau ist ein Handwerk seit mehreren Hundert Jahren“, sagt Lohmann. Jeder Mensch ist anders, also ist auch jede Prothese anders und eine Einzelanfertigung. Die Kosten liegen bei mehreren Zehntausend Euro. Bestellung, Anpassung und Bau der Hilfsmittel müssen über zertifizierte Sanitätshäuser abgewickelt werden. „Die Digitalisierung bietet viele Möglichkeiten“, sagt Lohmann. Barluschke habe viel Zeit in die Entwicklung seines Verfahrens investiert – mit überzeugendem Ergebnis. Seine Prothesen sind abrechnungsfähig und wurden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen abgenommen.
„Es läuft jetzt richtig an“
Philipp Barluschke hat auch Kontakte zu anderen Sanitätshäusern geknüpft, unter anderem in Kiel. „Es läuft jetzt richtig an“, sagt er. Dass er mal als Firmenchef durchs Land reisen würde, hätte wohl niemand gedacht. Nach dem Hauptschulabschluss absolvierte er eine Ausbildung als CNC-Fräser und CAD-Designer in Husum. Die Basis für sein Geschäft heute. Schon zu der Zeit fing er auch an, an seinen Prothesen zu basteln. „Obwohl man das ja eigentlich nicht durfte, weil die Garantie dann verfiel“, sagt er und grinst. Eigentlich waren damals auch ganz andere Sachen wichtig. Zum Beispiel das Motorrad so umzubauen, dass er es auch mit einer Hand fahren durfte.
Jetzt kniet er vor Lise und tastet ganz vorsichtig ihren Stumpf ab. „Stumpi“ nennen die beiden ihn liebevoll. Manchmal auch „Bumpi“. „Bevor ich ein Modell entwickele, muss ich ein Gefühl dafür haben“, sagt Philipp Barluschke und markiert mögliche Ansatzpunkte für das künstliche Gliedmaß. So hat er es auch bei seiner eigenen Prothese gemacht. Einen Gipsabdruck braucht er nicht mehr. Stattdessen benutzt er einen 3-D-Körperscanner. In unterschiedlichen Positionen nimmt er Lises Arm auf, kontrolliert die Bilder auf dem Monitor und speichert sie im Lise-Ordner.
„Einen besseren Experten als Philipp können wir uns nicht vorstellen“, sagt Vater Jan Petersen. „Wir hoffen, dass Lise eine besser sitzende Prothese wirklich nutzen kann.“ Denn auch wenn sie im Alltag bestens ohne klarkommt, kann der fehlende Unterarm auf Dauer zu Rückenbeschwerden und Haltungsschäden führen. Es fehlt schlicht der Gewichtsausgleich. Viele Menschen mit Dysmelie werden schief. Lise schweigt, lächelt selten. Aber man fühlt die innere Verbindung zu dem jungen Mann vor ihr, der sich nie unterkriegen ließ. Philipp Barluschke ist auch ein Vorbild.
Als Showturner aufgetreten
Statt sich zu verstecken, ist er mit seinem Bruder als Showturner aufgetreten. „Wir waren die Besten in der Gruppe“, sagt er. Und die Coolsten. Sein Spitzname: Gummimensch. 2009 meldeten Freunde ihn für die RTL-Show „Supertalent“ an. Er schaffte es bis ins Halbfinale. Im Jahr drauf ging er für acht Monate nach Mallorca, um eine Tauchlehrer-Ausbildung zu machen. „Eigentlich geht das laut Taucherorganisationen mit einem Arm gar nicht“, sagt Barluschke. Er trainierte eisern, meldete sich für die SSI Dive Trophy an und holte sich prompt 2010 den Titel als bester Sporttaucher Deutschlands. „Ich wollte beweisen, dass es geht.“ Danach bekam er einen Job als Tauchlehrer in Ägypten. Weil am Strand auch eine Kitesurf-Basis war, probierte er auch das aus. Und blieb dabei. Er suchte sich einen Job im australischen Melbourne, stand dort auch auf dem Brett. Und surfte an die Spitze, der Onehandman.
Wieder hatte er es allen bewiesen. Seinem Bruder Patrick brachte er das Kitesurfen zu Hause an der Nordsee bei. Wie kann das sein? „Das ist eine mentale Sache“, sagt Philipp Barluschke nüchtern. „Ich bin eher ein Taktiker.“ Wenn andere bei Wettkämpfen die krassesten Tricks versuchten, entscheide er sich für die, die er sicher könne. „Das ist auf die Dauer erfolgreicher.“ Deutsche Meisterschaft, Weltmeisterschaft, Kite Surf Cup – Barluschke war überall dabei. Als Kite-Experte bekam er eine Gastrolle in der TV-Serie „Alarm für Cobra 11“. Im vergangenen Jahr drehte Sat.1 drei Tage mit dem Onehandman mit dem Sunnyboy-Grinsen für einen Beitrag im Frühstücksfernsehen.
Vor knapp drei Jahren hat Philipp Barluschke angefangen, sich intensiv mit 3-D-Druck zu beschäftigen. „Ich habe die Chance gesehen, dass ich damit neue Eigenschaften kreieren kann“, sagt er. Er bestellte sich für 300 Euro einen Selbstbausatz für einen 3-D-Drucker. „Um die 600 Einzelteile zusammenzubauen, habe ich zwei Wochen gebraucht.“ Parallel zu einem Job als Manager in einer Lasertag-Arena begann er seine eigene Prothese zu entwickeln. „Ich hatte zwar immer neue über die Krankenkasse bekommen, aber mit den herkömmlichen war ich nie richtig zufrieden.“
Prothese für einen Hund
Konsequent suchte er Lösungen für das, was ihn störte: entwarf und formte den Schaft statt aus Silikon aus einem Material auf Kautschukbasis, um ihn weicher zu machen und unangenehme Druckstellen zu verringern. Baute ein Luftkühlsystem ein. Und während im herkömmlichen Verfahren oft ein PVC-Rohr die Basis für den Unterarm ist, modellierte er am Computer basierend auf den Scan-Daten ein Modell, das anatomisch korrekt sehr lebensnah aussieht und über einen 3-D-Drucker in die Realität umgesetzt wird.
Das klingt ziemlich einfach. Wie immer, wenn Philipp Barluschke etwas anfängt. Tatsächlich ist dieses Unternehmen seine bislang größte Herausforderung. Nicht nur, weil sie technisch anspruchsvoll ist, sondern auch weil er etwas weitergeben kann: den selbstbewussten Umgang mit einem Handicap. Das Interesse ist groß, 2017 gewann er bei einem Gründerwettbewerb der Hamburger Internet-Schmiede Jimdo den ersten Preis. Das Preisgeld, 12.000 Euro in monatlichen Finanzspritzen, steckt er in seine Firma.
Es gibt auch Gegenwind
Es gibt allerdings auch Gegenwind. In der Branche sieht man den Neuling ohne Fachausbildung kritisch. „Für viele in dem Bereich ist die Arbeit mit computergestützter Fertigung noch fremd“, sagt Barluschke. Aber weltweit wird inzwischen an dem Bereich geforscht. Weil Philipp Barluschke Angst vor Nachahmern hat, ist er vorsichtig, wenn es um konkrete Details seines Fertigungsprozesses geht. Aber er hat große Pläne. Mit einem Bankkredit hat er neue Maschinen bestellt, um seine Prothesen professioneller und schneller produzieren zu können. Investitionskosten: 70.000 Euro. „Ich will mit meinem Unternehmen wachsen“, sagt er. Schon bald will er weitere Mitarbeiter einstellen. In Zukunft vielleicht auch Beinprothesen machen. Im Moment hat er noch eine besonders weiche Kinderprothese in Arbeit, eine Ganzarm-Proteste und, das gibt es auch, eine für einen Hund.
Bis Lises Arm fertig ist, wird es einige Wochen dauern. Noch weiß sie nicht, wie sich das neue Teil an ihrem Körper anfühlt. Aber es gibt eben auch Situationen im Leben, in denen es schön ist, wenn man zwei Arme hat. Philipp Barluschke kann das inzwischen gut steuern. Vor allem wenn man weiß, dass es auch mit einem geht. Sagt’s und hebt zum Abschied den Arm. Den linken.