Eekholt. Alexander begehrte gegen seinen Bruder und Leitwolf auf. Als Tierpfleger auf die Beißerei aufmerksam wurden, war es schon zu spät.
Sie waren Brüder: Janosch und Alexander wurden am 15. Mai 2012 im Tierpark Gotha in Thüringen geboren, aber schon drei Monate später wurde der Wildpark Eekholt ihre neue Heimat. Hier wuchsen sie zu stattlichen Wölfen heran. Janosch erwies sich als der Stärkere, Alexander musste sich unterordnen. Viele Jahre war das kein Problem – bis zu jenem Wintertag Ende Januar. Aus den Brüdern wurden Feinde. Todfeinde. Janosch lebt nicht mehr.
Was ist an jenem trüben Tag, als wegen des Lockdowns keine Besucher in den Wildpark durften, im Wolfsgehege geschehen? Als Tierpfleger auf die Beißerei zwischen Alexander und seinem Bruder Janosch aufmerksam wurde, war es bereits zu spät: Beide Tiere hatten sich ineinander verbissen, die Verletzungen waren erheblich, aber Alexander hatte offenbar stärker zugebissen.
Wildpark-Tierärztin Elvira von Schenck, die Ehefrau des Geschäftsführer Wolf von Schenck, separierte die Tiere und behandelte die Bissverletzungen. Dabei stellte sich heraus, dass Alexanders Verletzungen schneller verheilten. Janosch hatte zu kämpfen, seine Bisswunden erwiesen sich als schwerwiegender. Aber auch bei ihm verlief der Heilungsverlauf zunächst vielversprechend.
Wildpark Eekholt: Wolf Janosch war schwer verletzt
Ein Irrtum, wie sich später herausstellte. „Äußerlich waren die Wunden recht gut verheilt“, sagt Wolf von Schenck. Unter dem Fell sah es jedoch anders aus: Die Verletzungen in den Gelenken erwiesen sich als so schwerwiegend, dass es teilweise zur Knochenauflösung kam.
Janosch verweigerte die Nahrung und konnte nicht mehr richtig auftreten. Wolf von Schenck ist noch heute erschüttert, wenn er an die Situation denkt: „Es gab keine Heilungsprognose. Wir haben dann entschieden, unserem Leitwolf das Leiden zu ersparen.“ Am 21. Februar wurde Janosch von seinen Schmerzen erlöst.
Warum es zu dem Zweikampf kam, liegt auf der Hand. Wolf von Schenck, ein in ganz Deutschland anerkannter Wolfsexperte, geht davon aus, dass Alexander die Führungsrolle in dem kleinen Wolfsrudel beansprucht hat und seinen Bruder deshalb zum Kampf herausforderte. Von Januar bis März ist Ranz- oder Paarungszeit, was möglicherweise zu dem Revierkampf beigetragen haben kann.
In freier Wildbahn sieht es anders aus
Soziale Strukturen mit ranghohen und rangniedrigen Wölfen entstehen nur in Gehegen, wenn mehrere Alttiere zusammen sind. In freier Wildbahn sieht es anders aus: Das Wolfsrudel ist ein Familienverband. Es besteht aus dem Elternpaar, den letztjährigen Jungtieren und den diesjährigen Welpen. Geschlechtsreife Jungtiere wandern ab, in der Natur kommt es so innerhalb des Rudels kaum zu sozialen Auseinandersetzungen. Doch in einem Wolfsgehege kann kein Tier auf Dauer abwandern.
Außer Alexander und Janosch lebten zu diesem Zeitpunkt noch die Wölfin Mascha, genau zehn Tage älter als die männlichen Wölfe, und ein im April vergangenen Jahres geborenes Jungtier im Wolfsgehege. Das Junge ist noch namenlos, weil das Geschlecht immer noch nicht feststeht. Erst wenn das Winterfell herunter ist, können die Experten des Wildparks feststellen, ob es sich um einen Wolf oder eine Wölfin handelt. Einfach herausgreifen und nachsehen, geht nicht. „Anhand der vorhandenen Fotos, die mit der automatischen Kamera im Gehege gemacht wurden, gehen wir davon aus, dass es sich um einen Rüden handelt“, sagt Wolf von Schenck.
Janosch sollte wohl Vater werden
Als Vater des Jungwolfes kommt in erster Linie der verstorbene Janosch infrage. Zumindest lässt die Fellfarbe darauf schließen: Janosch hatte das hellere Fell, Alexander das dunklere. Vielleicht hat sich Alexander aber auch damals schon als kommender Leitwolf gefühlt. Der genesene Alexander wurde inzwischen wieder in das Wolfsgehege gelassen, wo er aber nicht auf Anhieb die Position des neuen Leitwolfes einnehmen kann. Wolf von Schenck: „Er muss seine Position finden, weil er ja eine ganze Weile nicht mehr im Gehege war. Aber wir sind optimistisch, dass der Übergang von Janosch auf Alexander klappt.“
Verpaarte Wölfe bleiben meist das ganze Leben über zusammen – oder bis zum Tod eines Partners. Ob Mascha schnell bereit ist, ihren „Schwager“ als neuen Partner zu akzeptieren, werden die nächsten Wochen oder Monate zeigen. Für sie wäre es der dritte Leitwolf, den sie im Laufe ihres Eekholter Wildpark-Aufenthalts erlebt: Als sie hier eintraf, war noch Knickohr der Leitwolf im Gehege. Nach seinem Tod wurde Mascha mit den beiden Brüdern Janosch und Alexander vergesellschaftet.
Die Besucher des Wildparks werden über die Situation im Wolfsgehege nicht im Unklaren gelassen. „Wo ist Janosch?“, steht auf der Informationstafel. Unter seinem Foto wird von den Revierkämpfen zwischen Janosch und Alexander und vom Ableben des unterlegenen Wolfes berichtet. Wer sich vor dem Wolfsgehege Zeit nimmt, kann möglicherweise beobachten, ob ein neuer Familienverband entsteht.
Janosch ließ sich von Besuchern gern fotografieren
Die regelmäßigen Wildparkbesucher kannten Janosch schon seit vielen Jahren gut. Er war ein „Charaktertier“ und zugleich eine regelrechte „Rampensau“: Er genoss es, seine Vorzüge zur Schau zu stellen. Wenn Janosch mitbekam, dass Kameras gezückt wurden, legte er sich oft fotogen auf einen Baumstamm und ließ sich fotografieren.
Lesen Sie auch:
- Eine kleine tierische Sensation im Wildpark Eekholt
- Sie ist Deutschlands beste Tierpflege-Azubi
- Wildpark Eekholt gehört zu „Deutschlands Besten“
So kursieren unzählige Fotos des Leitwolfs, der auf die Betrachter einen friedfertigen Eindruck machte. Alexander und Mascha sind in dieser Hinsicht zurückhaltender und scheuer. Sie bleiben eher im Hintergrund, wobei Mascha noch etwas scheuer als Alexander ist. Zumindest war es bisher so.
Ob das dezimierte Wolfsrudel in der jetzigen Konstellation bestehen bleibt, steht noch nicht fest. Nachfragen bei anderen Wildparks sind zunächst ergebnislos geblieben, eigener Wolfsnachwuchs ist aktuell nicht geplant: Mascha bekommt eine Art „Antibabypille“, mit der die Läufigkeit unterdrückt werden kann. „Jetzt muss der neue Familienverband erst mal gut zusammenfinden“, sagt Wolf von Schenck. „Vielleicht können wir im nächsten Jahr an Nachwuchs denken.“