Sülfeld. Vor 40 Jahren wurde aus einem ehemaligen Gasthof die angesagteste Musik-Location zwischen Flensburg und Hannover: das Auenland.
Manche erinnern sich noch an die leckeren Bratkartoffeln, andere an die handgeschriebenen gelben Programmzettel mit dem Piepmatz drauf, die in Kneipen und an Schulen verteilt wurden. Wieder andere an die schöne Blondine hinterm Tresen oder an die roten Lollis, die es immer kostenlos gab. Was wohl keiner vergessen hat, der einmal in Sülfeld im Auenland war: die tollen Live-Konzerte, die gute Stimmung im großen Saal, die ernsten Gespräche in der Teestube und so manches Saufgelage.
40 Jahre ist es her, dass im beschaulichen 3200-Einwohner-Ort aus dem alten Schützenhof ein alternativer, in ganz Norddeutschland bekannter Musikladen mit Kultur-, Jugend- und Kommunikationszentrum wurde. Und 30 Jahre ist es her, dass das Auenland eines Nachts abbrannte.
Doch der Reihe nach: Acht junge Leute, alle Anfang bis Mitte 20, bekommen 1977 eher zufällig mit, dass der leer stehende Schützenhof in Sülfeld zu pachten ist. In dem Ausflugs- und Tanzlokal waren zuletzt auch immer wieder Auftritte von bekannten Pop- und Schlagersängern über die Bühne gegangen. Juliane Werding sang hier von Conny Kramer, Billy Mo von seinem Tiroler Hut. Ulrich Bärwald, ehrenamtlicher Archivar der Gemeinde, erinnert sich, in den 60er-Jahren im Schützenhof zum ersten Mal einen Karl-May-Film gesehen zu haben (während die Erwachsenen lieber die neuesten Helga-Filme schauten).
Die jungen Leute wollen im Schützenhof ihren Traum von einer großen Wohngemeinschaft, vom gemeinsamen Leben und Arbeiten verwirklichen. Der Name Auenland ist schnell gefunden. Die fantastische Märchenwelt voller Hobbits, Elben und Zauberern, die J.R.R. Tolkien in „Herr der Ringe“ beschreibt, ist Mitte der 70er der literarische Sehnsuchtsort vieler Jugendlicher. Die dreibändige Tolkien-Ausgabe im praktischen grünen Schuber gehört zur Standardlektüre all jener, die sich irgendwie als links und alternativ verstehen.
Die Freunde ziehen in das alte Gebäude, leihen sich Geld und beginnen damit, ihren Non-profit-Traum von einer Kneipe mit zivilen Preisen, mit Live-Musik, Theater, Disco und Ausstellungen umzusetzen. „Wir wollen keine Nepppreise verlangen, wollen etwas anderes, wollen mit unseren Gästen zusammen Pläne und Träume entwickeln“, heißt es in der hauseigenen „Auenland-Post“.
Das alles erinnert an die Fabrik in Hamburg – allerdings mit einem ganz großen Unterschied. Während die Hansestadt das Kulturzentrum wohlwollend mit Geld unterstützt, gibt es in Sülfeld schnell Ärger. Vielen Sülfeldern ist nicht ganz geheuer, was die „Gammler, Hascher und Anarchisten“ da so treiben. Das mitternächtliche Zuknallen der Autotüren, das laute Radiohören und der Müll sorgen für Aufregung. Als die Behörde die Sperrstunde auf 23 Uhr vorverlegt, gibt die erste Auenland-Mannschaft nach nur einem Jahr entnervt auf.
Als Tramper schaffte man es immer irgendwie nach Sülfeld
Doch das Auenland ist nicht gestorben: Aus ehemaligen Stammgästen, Freunden und Bekannten, die aus Norderstedt, Henstedt-Ulzburg, Kaltenkirchen und Bargteheide kommen, formiert sich die zweite Auenland-Generation, die mit einem veränderten Konzept an den Start geht. Ab Herbst 1979 dreht sich im Auenland fast alles nur noch um Musik. Innerhalb kürzester Zeit avanciert der ehemalige Landgasthof zur angesagten Live-Location zwischen Hamburg und Kiel. Autos mit Hannoveraner und Flensburger Kennzeichen fahren in Sülfeld an der Oldesloer Straße vor. Wer kein Auto hat, der braucht nur den Daumen rauszuhalten. Als Tramper schafft man es immer irgendwie ins Auenland. Ulrich Bärwald, damals 20, hatte es noch einfacher: „Wir Sülfelder mussten nirgends mehr hinfahren, die Leute kamen ja von überall zu uns“, sagt er.
Und nicht nur bei den Besuchern kommt das Konzept an: „Auch die Musiker und die Bands fanden toll, was wir gemacht haben“, erinnert sich Mike Scott, der damals zur Auenland-Crew gehörte und fürs musikalische Programm zuständig war. Ansonsten, so Scott, galt die Regel: Wer morgens zuerst aufsteht, kann sich einen Job aussuchen: entweder Kasse, Tresen, Küche oder Teestube.
Für viele Bands aus der Rock-, Jazzrock-, Blues-, Folk- und New-Wave-Szene wird das Auenland zu einer wichtigen Station bei ihren Tourneen im Norden. Auf der Bühne stehen oft Bands, die noch am Anfang ihrer Karriere sind: Unvergessen die Auftritte von Trio, damals eine Underground-Punkband mit Titeln wie „Los Paul, du musst ihm voll in die Eier haun“.. Mike Scott: „Trio spielte damals im Onkel Pö. Als ich Stephan Remmler fragte, ob sie nicht auch mal bei uns auftreten wollen, sagte er nur: ,Euch haben wir sowieso auf dem Zettel.’“ Kurz nach dem Auenland-Gig singt die halbe Welt dann „Da, da, da“. Andere Bands, die für eine volle Hütte sorgen, sind unter anderem Hifi, Ougenweide oder Opus, die 1985 mit „Life is Life“ einen Welthit landen sollten.
Besonders intensiv ist der Kontakt der Auenländer zur österreichischen Kabarett-Musik-Truppe Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV). Im Auenland kassiert das Sextett, das später mit vermeintlichen Spaßliedern („Küss’ die Hand schöne Frau“) zu einem Aushängeschild der Neuen-Deutschen-Welle wird, nur einen Bruchteil der Gage, die sie in Hamburg verlangen kann. Den Österreichern gefällt es so gut in Sülfeld, dass sie jede Tournee mit einem Auftritt im Auenland beginnen. Auch ein Foto für das Plattencover zur LP „Café Passé“ entsteht im Auenland. „Die Musiker haben natürlich oft auch bei uns gewohnt. Platz hatten wir ja genug“, sagt Mike Scott. Morgens wurde gemeinsam gefrühstückt – auch Musiker mögen’s eben familiär. Einige Musiker lassen es sich nicht nehmen, sich nach dem Auftritt hinter den Tresen zu stellen und Bier zu zapfen oder bei einem Vanille-Tee mit den Gästen zu plaudern.
Die Veranstaltungen im Auenland werden auch politisch, wie sich Bärwald erinnert. Es finden Konzerte für den Frieden, gegen Atomraketen, gegen Reagan statt, und auch die gerade gegründeten Grünen feiern im Auenland. 1984 kommt ein ganz Großer ins Auenland: Woodstock- und Ten-Years-After-Legende Alvin Lee zelebriert sein „I’m Going Home“ vor mehr als 400 Besuchern im großen Saal.
Die Behörden machten den Auenländern das Leben schwer
Längst nicht mehr nur die lokale Presse berichtet übers Auenland. Der „Stern“ kommt zu Besuch und titelt „Die Szene geht ins Grüne“. Und der Zeichner Wolf-Rüdiger Marunde (63) setzt dem Auenland mit einer in der „Brigitte“ veröffentlichten Zeichnung ein Denkmal (siehe unten). Marunde, der aus Norderstedt stammt, ist nach eigenen Worten „in der Anfangszeit immer mal an den Wochenenden“ im Auenland gewesen: „Selbstverständlich hatte ich lange Haare und einen alten VW-Bus. Das Auenland versuchte sich anfangs ja auch in Kräuterworkshops und ähnlichem Späthippie-Lifestylezeugs, mich interessierten aber vor allem die Konzerte. Ich hatte Studium und Zivildienst abgeschlossen, war 24 Jahre alt, lebte in einem baufälligen kleinen Haus in Henstedt und hatte nie Geld.“
Doch auch jetzt gibt es wieder Ärger. Weniger mit den Sülfeldern, die sich an die Auenländer gewöhnt haben (einige von ihnen verstärken die heimische Fußballmannschaft), als vielmehr mit den Behörden. Um den Auenländern das Leben schwer zu machen, beweist das zuständige Amt Itzstedt durchaus Einfallsreichtum, beispielsweise bei dem letztlich vergeblichen Versuch, der Kneipe den Status als „Tanzlokal“ abzuerkennen: Da die Besucher zu den dargebotenen Musikveranstaltungen „mehr oder weniger unorthodoxe Bewegungen“ ausführten, könne von einem richtigen Tanzlokal nicht mehr die Rede sein, heißt es in einem Schreiben. Oder es schlicht mitgeteilt: „In der Leuchtstofflampenleuchte ist die unbenutzte Drillingslitze zu entfernen.“ Auch die Polizei ist bei den Konzerten gelegentlich zu Gast – Ausweiskontrolle! Wer noch nicht 18 ist, wäre gut beraten, sich unauffällig in die hinterste Ecke der Teestube zu verkrümeln.
Mitte der 80er-Jahre läuft das Auenland dann nicht mehr so gut und wird zum Leidwesen der Besucher geschlossen. Das endgültige Ende des Auenlandes kommt am 6. März 1987. Ulrich Bärwald: „In der Nacht brannte der bereits unbewohnte Gebäudekomplex nach einer Brandstiftung bis auf die Grundmauern ab.“ Bärwald war als Feuerwehrmann vor Ort. Danach werden auf dem Areal in der Ortsmitte Sülfelds Wohnbauten errichtet.
40 Jahre später sagt Sülfelds Bürgermeister Karl-Heinz Wegner (64), dass er selbst nie im Auenland war („Als das anfing, da war meine Sturm-und- Drang-Zeit schon vorbei“). Doch wenn es nach ihm und den anderen Kommunalpolitikern im Ort gegangen wäre, dann hätte es in diesem Jahr anlässlich des 40. Auenland-Geburtstages ein großes Revival-Festival auf dem Sportplatz gegeben. Die Planungen, an denen sich auch Mike Scott und andere Auenland-Veteranen beteiligten, waren bereits weit fortgeschritten. Doch am Ende bekamen die Organisatoren angesichts der zu erwartenden Kosten wohl doch kalte Füße. Das ist schade, wie vermutlich nicht nur Mike Scott findet. Er erinnert sich, was ein Sülfelder vor nicht allzu langer Zeit zu ihm sagte: „Was hatten wir denn hier schon in den vergangenen hundert Jahren: Einen Mord – und euch!“