Kaltenkirchen. In Kaltenkirchen und der Umgebung müssen Patienten bis zu sechs Monate warten, wenn sie einen Termin beim Hausarzt haben wollen.
„Wenn ich das gewusst hätte“, sagt Rita Heinig und schaut ihren Sohn Holger ratlos an. Doch auch der Kaltenkirchener weiß keinen Rat, wie er seiner 84 Jahre alten Mutter helfen kann. Im August zog sie von Kiel nach Kaltenkirchen in ein Heim in seiner Nähe. So konnte sich Holger Heinig besser um sie kümmern. „Und eine ganz tolle Wohnung habe ich auch“, sagt Rita Heinig. Bahnhof und Einkaufsmöglichkeiten kann sie mühelos mit ihrem Handstock erreichen. Doch eines kann Kaltenkirchen ihr nicht bieten: einen Hausarzt, der Zeit für sie hat.
„Ich brauche doch einen Arzt“, sagt die 84-Jährige. Er war völlig überrascht, als er nach dem Umzug seiner Mutter einen Hausarzt nach dem anderen anrief und immer wieder das eine Wort hörte: Patientenstopp, sagt Heinig. Dann verzichtete Heinig auf weitere Anrufe und fuhr mit seiner Mutter von Praxis zu Praxis – ebenfalls ohne Erfolg. „Wir können nichts für sie tun“, bekam er zu hören.
Arbeiten am Limit
Auch in Henstedt-Ulzburg, Bad Bramstedt und anderen Nachbarorten lauteten die Antworten ähnlich. „Wir haben erfahren, dass in den Praxen wirklich am Limit gearbeitet wird“, sagt Heinig, der keinem Arzt einen Vorwurf machen will, gleichzeitig aber rätselt, wie seine Mutter medizinisch versorgt werden kann. Er hatte gehofft, dass seine Mutter in Kaltenkirchen weiter ein selbstständiges Leben führen könne, doch jetzt ist sie mehr auf seine Hilfe angewiesen als zuvor. Damit seine Mutter weiterhin untersucht wird und ihre Medikamente bekommt, hat sich der 59 Jahre alte Frührentner zu einem anstrengenden Entschluss durchgerungen. Heinig will seine Mutter regelmäßig nach Kiel zu den Ärzten fahren, bei denen sie bislang in Behandlung war. „Das ist zwar verrückt, aber was sollen wir machen?“, fragt er.
Dass schon jetzt nicht genügend Ärzte in Kaltenkirchen arbeiten und trotzdem immer neue Wohnungen entstehen, passt für ihn nicht zusammen. „Eine ärztliche Versorgung gehört doch dazu“, sagt Holger Heinig.
Das sieht auch Bürgermeister Hanno Krause so, der sich für die Daseinsvorsorge in seiner Stadt verantwortlich fühlt, auch wenn die ärztliche Versorgung nicht zu den Aufgaben einer Stadtverwaltung zählt. In einer Einwohnerversammlung und in den Bürgersprechstunden musste er sich immer wieder Beschwerden anhören, mehrfach hat Krause bereits mit der Kassenärztlichen Vereinigung gesprochen. „Frei werdende Praxen werden nicht immer sofort wieder besetzt“, hat Krause erfahren und fürchtet, dass die Situation eher schlimmer als besser wird. Vier Hausärzte sind bereits in den Ruhestand gegangen, weitere werden demnächst folgen. Dass Nachfolger sich nicht mehr in Kaltenkirchen, sondern sich in einer anderen Gemeinde niederlassen, hält er für möglich.
Bürgermeister Krause will „Büsumer Modell“ umsetzen
„Wir müssen etwas tun, auch wenn wir dafür nicht zuständig sind“, sagt Krause. Er hält es für denkbar, das bislang bundesweit einmalige Modell der Nordseestadt Büsum umzusetzen. Dort hat die Kommune einen siebenstelligen Betrag in eine gemeinnützige GmbH inklusive Gebäude investiert, in der Ärzte als Angestellte und nicht als Praxisinhaber arbeiten. Dort können sich Mediziner niederlassen, die nicht die Verantwortung für eine eigene Praxis übernehmen wollen oder in Teilzeit arbeiten möchten. Die Büsumer Ärzte sprechen von einem Erfolg.
Krause berät mit der Kassenärztlichen Vereinigung, der Politik und Ärzten über eine Lösung. Ende des Jahres soll ein Konzept vorliegen.
„Über eine 60-Stunden-Woche würde ich mich freuen“
Marco Dethlefsen von der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein berichtet von einer paradoxen Situation. Einerseits berichten viele Patienten von einem Aufnahmestopp, andererseits liegt der Versorgungsgrad in Kaltenkirchen bei 110 Prozent. Das bedeutet: Statistisch betrachtet ist Kaltenkirchen sogar überversorgt, wenn man den gesetzlichen Maßstab anlegt, dass ein Hausarzt 1176 Menschen versorgen soll.
Mehr ältere Patienten
So steht es in der Bedarfsplanung, die bundesweit von Kassen, Ärzten und der Politik festgelegt wird. „Das steht auf dem Papier, das andere ist die Realität“, räumt Dethlefsen ein. Die Bedarfsplanung basiere teilweise noch auf Zahlen aus den 90er-Jahren. In der Zwischenzeit sei jedoch das Durchschnittsalter der Menschen und damit die Zahl der Krankheiten immer weiter gestiegen.
„Die Bedarfsplanung müsste aktualisiert werden“, sagt Dethlefsen. „Das müsste in Berlin passieren.“ Auch er weiß um die Probleme in der Zukunft. Jeder dritte Hausarzt sei älter als 60 Jahre. Und wie kann Rita Heinig geholfen werden? „Ich weiß auch keinen klugen Rat“, sagt Dethlefsen.