Sülfeld. Pastor Steffen Poos macht diesen Sommer ein ungewöhnliches Experiment: Jeden Donnerstag sitzt er für zwei Stunden mitten in Sülfeld.

Es ist ein ungewohntes Bild mitten in Sülfeld: Ein kleiner Biertisch und zwei Bänke stehen auf dem Marktplatz neben der Bushaltestelle. Am Tisch sitzt Pastor Steffen Poos und lädt die Menschen ein. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“, fragt er. Oder später, als der Kaffee alle ist: „Darf ich Ihnen einen Keks anbieten?“ Der Pastor mit der hellblauen Fliege, den legeren Schuhen und Dreitagebart spricht die Menschen in Sülfeld an. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Wer die Szenerie ein paar Minuten verfolgt, dem wird schnell klar: Poos hat sich in seiner neuen Heimat eingelebt. Seit dem Frühjahr wohnt der 35-Jährige auf der anderen Seite der Kirche im Pastorat, kennt viele Menschen und grüßt sie mit Namen und einem herzlichen „Moin“. Auch daran hat sich der Theologe, der vorher in Hessen arbeitete und ursprünglich aus Baden-Württemberg stammt, bereits gewöhnt.

„Die Hälfte der Menschen, die hier anhalten, kenne ich schon, die andere Hälfte überhaupt nicht“, erklärt er, während sich gerade einige Mütter am Tisch mit einer Lehrerin aus der Nachbarschaft unterhalten. „Ich kann auch nicht mit jedem der Menschen, die hierher kommen, reden. Die Leute beschenken sich selbst mit Gemeinschaft. Sie sitzen hier und reden.“ Als er die Aktion Anfang Juli begann, war er nicht sicher, ob er vielleicht die zwei Stunden ganz alleine ausharren müsste. Seitdem sitzt Steffen Poos jeden Donnerstag zwischen 10 und 12 Uhr am Marktplatz, wenn es nass wird, zieht er ins Buswartehäuschen um. Seine Bedenken waren unbegründet. Von Anfang an war viel los.

Das Angebot, den Pastor auf der Straße anzusprechen, senkt die Hemmschwelle

„Die Leute, die kommen, haben oft ein Anliegen, aber niemanden zum Zuhören“, sagt er. Das Angebot, ihn quasi auf der Straße anzusprechen, senkt die Hemmschwelle für viele. Sie würden nicht in den Gottesdienst kommen oder auch nicht zum Pastorat, aber wenn der Pastor selbst an der Straße sitzt, dann wird er angesprochen. „Wir machen auch öfter einen Folgetermin aus“, berichtet Poos. Oft sind es nachdenkliche Themen, die die Menschen umtreiben, es geht um anonyme Bestattungen oder auch die Stellung zu Kirche und Glauben. Poos will ihnen nichts aufdrängen, will nicht missionieren, sagt er, obwohl er auch in seinem unverkennbaren Schwäbisch bekennt: „Ich werb schon für die Kirch, für unseren Herrgott.“ Selbst fühlt er sich von den Menschen auch beschenkt. Er kehre oft mit konkreten Arbeitsaufträgen wieder heim ins Pastorat. Andere Menschen würden ihn ignorieren oder auf die Frage, ob sie Keks oder Kaffee wollen auf die fehlende Zeit verweisen. „Das ist auch in Ordnung“, sagt er.

Kathrin Baer ist bewusst zu Poos gekommen. Die Lehrerin hatte bereits beim Brötchenholen die Runde am Markt gesehen und da fiel ihr ein, dass sie unbedingt auch einmal vorbeikommen wollte. Die zehn Euro, die sie auf der Straße gefunden hat, hat sie auch gleich als Spende mitgebracht. „Die Aktion ist eine gute Idee“, sagt sie. Gerne sei sie gekommen, um ein paar Worte mit dem Pastor und mit anderen Besuchern zu wechseln. Unter anderem mit Silke Johnsen. Die Setherin und ihr Sohn Peer fühlen sich in der Sülfelder Kirchengemeinde zu Hause, hier war er im Kindergarten, hier wird er nach den Ferien die Gemeinschaftsschule besuchen. Johnsen freut sich über den neuen Pastor. „Peer soll hier auch einmal konfirmiert werden“, sagt sie. „Die Kinder nehmen Pastor Poos gut an.“

Der Pastor selbst hat eine ähnliche Aktion bereits in seiner alten Kirchengemeinde auf die Beine gestellt. Damals war er an acht Sonntagen jeweils in einem der acht Dörfer der Gemeinde. Er wollte vor Ort präsent sein, was aber weniger angenommen wurde als in Sülfeld. In seiner neuen Gemeinde gebe es durch die neun Donnerstage eine Tiefenwirkung, findet Poos.

Der Geistliche ist davon überzeugt, dass Glaube Beziehungsarbeit ist

Für ihn ist das auch eine Form, mit der Krise in der evangelischen Kirche umzugehen, die in den vergangenen Jahren hohe Austrittswellen zu verzeichnen hat. Alle Umfragen zeigten, dass die Menschen den Pastor vor Ort mit der Kirche verbinden. „Wenn die Beziehung stimmt, dann kann man sehr viel machen“, sagt er. „Glaube ist Beziehungsarbeit.“

Poos versteht sich als Pastor als eine Art Reiseführer. Er möchte die Menschen in einem Raum führen, wo sie mit etwas in Beziehung gebracht werden, „was die Welt nicht von sich aus kann“. Ihm geht es um eine spirituelle Gotteserfahrung. Eine Form davon, vielleicht mehr eine Anbahnung, ist die Begegnung auf dem Marktplatz. Ihr kann vieles folgen. Neben dem Gespräch bei den Menschen zu Hause beispielsweise ein Besuch im Gottesdienst oder auch nur einfach mal so ein Aufenthalt in der Kirche. Die ist vom Marktplatz gut sichtbar, zwischendurch kommt auch ein Paar auf dem Rad vorbei, das sich die Kirche von innen anschauen will.

Das Experiment, die Kirche einmal direkt auf die Straße, vor Frisör und Volksbank, zu holen, ist in den Augen von Poos geglückt. Etwa 30 bis 40 Menschen kommen jedes Mal vorbei. „Das hätte ich nicht so gedacht“, sagt er. Und das nächste Mal brüht er vielleicht eine Kanne Kaffee mehr. Diesmal waren die zwei Kannen nach einer Stunde schon fast leer.