Pfarrer Kristian Lüders aus Bad Segeberg über seinen Einsatz auf einem Marineschiff, das Hunderte Flüchtlinge aus dem Mittelmeer barg
Den 23. Juni 2015 wird die Besatzung der „Werra“ nie vergessen: Die 82 Frauen und Männer an Bord des Hilfs- und Versorgungsschiffes (Tender) der deutschen Marine retten 627 Menschen – darunter 115 Frauen, 41 Kinder und einen Säugling – aus einem Holzboot etwa 30 Seemeilen nordwestlich der libyschen Hauptstadt Tripolis. Ein weiterer Rettungseinsatz folgt wenige Wochen später: Am 15. Juli holt die Crew der „Werra“ 211 Menschen, darunter elf Frauen und fünf Kinder, aus zwei Booten an Bord. Seit Juni ist der Tender im Mittelmeer im Einsatz, um Flüchtlingen in Seenot zu helfen. Zur Besatzung gehört Militärpfarrer Kristian Lüders. Wolfgang Klietz hat mit dem 48-Jährigen über die Arbeit an Bord und die Belastung der Soldaten gesprochen.
Hamburger Abendblatt: Welches Erlebnis auf dieser Reise hat bislang den tiefsten Eindruck bei Ihnen hinterlassen?
Kristian Lüders: Mich beeindrucken Menschen. Mich beeindrucken die Soldaten, die aus fast nichts eine Toilettenanlage bauen, die man mit Seewasser spülen kann. Die tagein, tagaus dafür sorgen, dass alles da ist, was wir hier zum Leben brauchen. Die sich Wege erdacht haben, die Flüchtlinge sicher an Bord zu bringen und hier zu versorgen. Die trotz der langen Abwesenheit von zu Hause ihre Liebe pflegen und die Soldaten, die die anderen trösten, wenn es nicht mehr funktioniert. Diese Soldaten beeindrucken mich wirklich. Und die Blicke der Flüchtlinge, als Europa in Sicht kam. Kalabrien lag in der Abendsonne. Es gibt noch so viele Momente mehr. Vielleicht ist es einfach der Moment, in dem mich die Wahrheit der Worte anfasst: Wer einen Menschen rettet, der rettet die Welt.
Wie geht es den Soldaten an Bord, nachdem sie binnen kurzer Zeit Hunderte Menschen gerettet haben?
Lüders: Am Ende des Einsatzes müssen die Soldaten, die über Stunden unter hohen Temperaturen Menschen aus deren Schlauchbooten gerettet oder sie an Bord versorgt haben, aus ihren Schutzanzügen heraus. Das geht ganz schnell: Drei Schnitte mit der Schere und dann stehen sie da in T-Shirt und Shorts. Verschwitzt, erschöpft und mit einem leuchtenden Lachen.
Bei einem isotonischen Getränk erzählen sie von den Kindern, den Blicken, der Freude und der Angst der Flüchtlinge. Sie rauchen eine erste Zigarette, und ich spüre, wie das Schicksal dieser fremden Menschen ihr Herz berührt. Rettung unter optimalen Bedingungen, Tageslicht und ruhige See, eine große Menschengruppe ohne großen Streit – dafür sind die Soldaten dankbar.
Sie sind stolz auf das, was sie geleistet haben. Völlig zu Recht, denke ich. Diese Männer und Frauen haben ihre Aufgabe so selbstverständlich und professionell erfüllt. Respekt!
In welchem Zustand befanden sich die Flüchtlinge?
Lüders: Die Gesichter der Menschen erzählen von einem langen Weg. Ihre Augen blicken uns an und versuchen zu verstehen, wer wir sind, ob wir zu denen gehören, die helfen, die etwas zu essen und zu trinken geben oder zu denen, die das letzte Geld nehmen. Manchmal höre ich diese Frage in fremden Worten, die ich nicht übersetzen kann und doch verstehe.
Ich spüre, dass sie geschlagen und betrogen wurden und hungern mussten. Sie sind einfach und sauber gekleidet. So sauber, wie man sein kann, wenn man etliche Stunden auf einem maroden Boot gerade einmal die Fläche seiner Fußsohlen zur Verfügung hat.
Haut an Haut breiten sich auch Krankheiten aus. An der Pier stehen später Zelte. Eines für Menschen mit Läusen, ein anderes für Menschen mit Krätze, einige Liegen für Erschöpfte stehen bereit und ein Platz für die Gesunden. Dieser Platz und die Liegen werden kaum gebraucht, die Zelte aber sind voll.
Wie helfen Sie der Besatzung, mit der hohen Belastung fertigzuwerden?
Lüders: Die Belastung hat viele Gesichter. Ich konnte von Anfang an dabei sein. Auf dem Weg ins Mittelmeer musste die Rolle – so nennen Seeleute ein bestimmtes Manöver – „Seenot“ für den Tender „Werra“ erfunden werden. Soldaten stellen sich schnell hinter die Erfordernisse ihres Einsatzes zurück.
Damals habe ich eingebracht, dass Luft gelassen wird – Luft für eine kurze Pause, Luft für die Toilette, mehr Luft und weniger Anzug. Das war ziemlich einfach, denn die Schiffsführung der „Werra“hatte diese Bedürfnisse außerordentlich gut im Blick.
Ein anderes Gesicht der Belastung ist eine unbestimmte Angst vor dem, was kommen könnte. Solche Ängste werden klein, wenn man über sie sprechen kann. Vieles erweist sich als unbegründet, und auf den Rest kann man sich vorbereiten. Diese Gespräche – einzeln, in kleinen und großen Gruppen – waren ein zweiter Schwerpunkt.
Wieder ein anderes Gesicht der Belastung ist ein Ereignis, das die Psyche eines Menschen nicht mehr so einfach wegstecken kann. Wer so etwas erlebt, ist verwundet. Die Bundeswehr geht inzwischen mit solchen Verwundungen sehr fürsorglich um.
Als Militärpfarrer bin ich Teil dieses Systems und für hilfreiche Interventionen Hand in Hand mit dem psychosozialen Netzwerk ausgebildet.
Wünschen auch die Flüchtlinge den Beistand eines christlichen Geistlichen?
Lüders: Unter den Flüchtlingen waren etliche Christen. Sie trugen Kreuze, lasen in der Bibel, sangen und beteten. Es gab unter ihnen verschiedene Menschen, die diese kleinen Gottesdienste geleitet haben. Zu dieser gelebten Frömmigkeit hätte ich mit meinen sprachlichen Möglichkeiten nichts beitragen können.
Haben Sie vergleichbare Einsätze erlebt?
Lüders: Dieser Einsatz ist wirklich anders. Auf den ersten Blick ist alles ganz einfach. Menschen aus Seenot zu retten, ist irgendwie selbstverständlich. So etwas hat es schon immer gegeben. Aber die Zahlen sind überwältigend. Und mit diesen Zahlen an Menschen, an Tagen, an Booten verändert sich auch die Qualität. Es ist einfach sinnvoll und im Großen richtig kompliziert. Das habe ich so noch nicht erlebt.
Glauben Sie persönlich, dass es auf Dauer die Aufgabe des Militärs sein kann, die Seenotrettung auf den Flüchtlingsrouten des Mittelmeeres zu übernehmen?
Lüders: Wann übernimmt jemand eine Aufgabe? Manchmal, weil man es muss und manchmal, weil man es einfach kann. Im Moment gibt es neben der Marine niemanden, der in so großem Stil Menschen aus Seenot retten, sie medizinisch versorgen und sicher an Land bringen kann. Die Besatzungen von Kriegsschiffen können mit ihren Schiffen Leben retten. Das große europäisch-afrikanische Problem werden dieser Tender und all die anderen Schiffe der Marine nicht lösen können.
Ich glaube, es ist ein Grundpfeiler unserer Zivilisation, dass Menschen in Not geholfen wird. Eine Gleichgültigkeit, die den Tod von Menschen in Not leichtfertig in Kauf nimmt, zerstört unsere Zivilisation. Darum wird es Wege geben müssen für die Menschen, die in Europa Schutz suchen, Wege, die einfacher und weniger gefährlich sind. Der Weg über das Mittelmeer mit überfüllten, maroden Booten ist vor allem sehr gefährlich. Ich hoffe, dass es hier bald andere Wege geben wird und glaube nicht, dass die Marine Teil dieser Logistik sein sollte.
Wie sieht Ihr Tagesablauf aus? Wie sind Sie an Bord untergebracht?
Lüders: Die Unterbringung auf einem Tender ist großartig. Die Soldaten an Bord sind freundlich, beantworten jede Frage mit einer Engelsgeduld, kompetent und hochengagiert, was diesen Einsatz betrifft. Ich stehe früh auf, weil ich die Morgenstimmung liebe und auch die Menschen, die das teilen. Mein Tag folgt dann eng den dienstlichen Vorhaben an Bord. Da spannt sich der Bogen zwischen Rost klopfen, Gösch hissen bis zum Spülen in der Spülküche oder dem Manöver auf der Brücke. In der Rolle „Seenotrettung“ sorge ich an der Betreuungsstation für Getränke, Bananen, einen kleinen Snack und natürlich ein Gespräch – buchstäblich über Gott und die Welt. Wenn die Soldaten zu mir an die Station kommen, und sei es nur um kurz etwas zu trinken, können sie sich gleich etwas von der Seele reden, was ihnen nahegeht. Sonntags gibt es natürlich einen Gottesdienst, bis jetzt immer auf der Back, ganz vorne an der Spitze des Schiffes. Im Moment ist dieser Ort für mich die schönste Kirche der Welt.