Norderstedt. Die Norderstedterin Shari Lynn Stewen ist auf dem Weg zum Musical-Star. In dem Musical an der Elbe spielt sie gleich zwei Hauptrollen.

„Ich will doch nur leben! Ist das zu viel verlangt?“ Verzweifelt wehrt sich die 17-jährige Ingrid Lubanski gegen die rigiden Erziehungsmethoden ihres Vaters. Der ist gerade aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt, nach Essen in die Ärmlichkeit. Für ihn, der zehn Jahre in sowjetischer Gefangenschaft war, ist es das Paradies. In dem aber niemand mehr auf ihn hört, und in dem seine Ansichten von Recht und Ordnung von gestern sind. Und gestern – das war die Nazi-Zeit. Seinem Sohn Matthias verabreicht Vater Richard sogar eine schallende Ohrfeige, gefolgt von den Satz: „Ein deutscher Junge weint nicht.“

Bruch einer Familie. Wäre da nicht der Fußball. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz: Das Wunder von Bern.

Shari Lynn Stewen spielt die 17-jährige Ingrid Lubanski mit einer Mischung aus Sanftmut und Fröhlichkeit
Shari Lynn Stewen spielt die 17-jährige Ingrid Lubanski mit einer Mischung aus Sanftmut und Fröhlichkeit © Heike Linde-Lembke | Heike Linde-Lembke

Eine, die in diesem Wunder im Theater an der Elbe mitspielt, ist Shari Lynn Stewen aus Norderstedt. Und das in mehreren Rollen. Einmal spielt sie die Tochter Ingrid Lubanski, in anderen Aufführungen ist sie Annette Ackermann, die Ehefrau des Sportreporters Paul Ackermann, und obendrein noch ein ganz normales Ensemble-Mitglied. Shari Lynn Stewen ist fast jeden Abend on stage, wenn der Lappen für „Das Wunder von Bern“ hochgeht.

„Ingrid und Annette, das sind zwei völlig unterschiedliche Charaktere, und gerade das macht den Reiz aus und fordert mich heraus“, sagt die junge Musical-Darstellerin. „Ich bin noch in dem Alter, in dem ich beides gleichzeitig spielen kann, das junge Mädchen und die junge Frau“, sagt die 24-Jährige. Die Tochter legt sie sanft an und duldsam wie junge Mädchen zu Beginn der 50er-Jahre eben zu sein hatten.

Manchmal jedoch begehrt sie auf, gegen den Vater beispielsweise, der sie im Tanzschuppen blamiert, ihr ein Tuch reicht, damit sie sich die aufgemalten Strumpfnähte von den Beinen wischt, und sie nach Hause schickt. Dabei will sie nur leben. Shari Lynn spielt diesen Zwiespalt der jungen Ingrid nahezu authentisch aus, kann ausgelassen tanzen und tieftraurig sein. Ihre helle Stimme ist klar und kraftvoll und hat sich trotzdem den jugendlichen Schmelz bewahrt. Gleichzeitig klingt durch, was sie für die Rolle der Annette braucht, den etwas röhrigen Sound, eine gute, schnelle Aussprache, um das durchgeknallte Luxus-Girl zu spielen, voll Temperament und Es­prit, mit Charme, Chuzpe und Witz.

Die 24-Jährige aus Norderstedt meistert auch das. Wie bisher alles, um sich den großen Traum zu erfüllen, den Traum vom Musical-Star. Um sich das Zeug für dieses Ziel anzueignen, hat sie schon viele Hürden mit Bravour, Überzeugung und Durchsetzungskraft genommen. Shari Lynn Stewen ist als Sängerin und Darstellerin im Fach Musical mehrfache Siegerin des Wettbewerbs Jugend musiziert. 2009 holte sie sich einen ersten Preis mit Auszeichnung beim Bundeswettbewerb, 2011 war sie Finalistin beim Bundeswettbewerb Gesang in Berlin. Schon während ihrer Schulzeit am Harksheider Gymnasium in Norderstedt tanzte sie beim Hamburger Fernsehpreis.

„Ich träumte schon als Zwölfjährige davon, zu singen, zu tanzen und Theater zu spielen“, sagt Shari Lynn. Vor Publikum spielen, Freude bereiten, Applaus erhalten – das war der große Traum der kleinen Shari Lynn.

Shari Lynn Stewen lässt sich von Iris Grozdanosk (l.) und Angela Nabblah die Haare aufschnecken, damit die Perücke gut sitzt
Shari Lynn Stewen lässt sich von Iris Grozdanosk (l.) und Angela Nabblah die Haare aufschnecken, damit die Perücke gut sitzt © Heike Linde-Lembke | Heike Linde-Lembke

Diesen Traum hat sich die große Shari Lynn längst erfüllt. Doch wie das so ist mit Träumen, erfüllt sich der eine, kommt der nächste um die Ecke. Jetzt träumt sie von den großen Rollen, von der Titelrolle als Elisabeth beispielsweise, von Janet in der „Rocky Horror Picture Show“. Oder vom Musical „Carole King – Beautiful“. „Das habe ich gerade in London gesehen – einfach umwerfend“, schwärmt Shari Lynn. London, auch so ein Traum. Oder der Broadway in New York.

Nach dem Abitur wurde sie nach einem strengen Casting sofort in die Joop van den Ende Academy in Hamburgs HafenCity aufgenommen, Start für eine intensive Ausbildungszeit. Von morgens 8.30 Uhr bis manchmal nach 20 Uhr lernte sie erneut Tanzen, Singen, Spielen. Der Spruch „Du schaffst das!“ ihrer Lehrer wurde zu ihrem Lebensmotto. Zwei ihrer Lehrer trifft sie auf der Bühne des Theaters an der Elbe im „Wunder von Bern“ wieder, als gleichberechtigte Kollegin. „Sonia Farke und Detlef Listenschneider sind heute Abend meine Eltern, also die Lubanskis, das ist ein ganz tolles Gefühl.“

Die Energiefrau mit der natürlichen charmanten Ausstrahlung schaffte nach ihrer Ausbildung sofort den Sprung auf die Bühnen Europas. Nach Wien beispielsweise. Und zu den Thunerseespielen in der Schweiz. Dort spielte sie die junge Claire im Musical „Besuch der alten Dame“ nach der Tagikomödie von Friedrich Dürrenmatt, im Kehrwieder Theater Hamburg die Jenny im Musical „Company“, Miss Goldberg in „Falsettos“ und in „Ruby in Dames at Sea“. Und nun „Das Wunder von Bern“, ein kleines Wunder auf dem weiten Weg der Shari Lynn Stewen aus Norderstedt.

Bis 30. September läuft ihr Vertrag mit der Stage Entertainment Company: „Ich habe alles mitgenommen an Ausbildung, was ich konnte. Jetzt habe ich neue Pläne und will weiter, will mehr erleben.“