Norderstedt. Wühlen im Schlamm, Klettern auf umgestürzten Baumriesen und geheime Wege im Dickicht finden – die Wilde Welt wurde im Stadtpark eröffnet.

„Und was ist hier?“, fragt der Schüler der Grundschule Glashütte. „Einfach nur Natur!“, antwortet der Erwachsene. „Cool!“, sagt der Knirps, schnappt sich einen abgestorbenen Ast und verschwindet im Dickicht einer Schonung.

Wilde Welt heißt der „Naturerfahrungsraum“, der am Donnerstag gleich neben der Obstbaumwiese im Norderstedter Stadtpark eröffnet wurde. Die Erstklässler aus Glashütte durften die eingezäunte Wildnis als Erste entdecken. Ein Matschloch, wild bewucherte Freiflächen zum Toben, ein Kletterbaum und jede Menge Gehölz – nicht mehr und nicht weniger.

Naturräume wie diese sind rar geworden im Stadtgebiet. Im durchkomponierten Stadtpark waren sie bislang nicht vorhanden. Zwar gibt es hier jede Menge Spielplätze. Aber die Parkordnung bremst den kindlichen Entdeckerdrang in Feld-, Wald- und Seepark. In der Wilden Welt gibt es nur eine Regel für die Kinder: Macht, was ihr wollt.

Naturerfahrung ist wichtig für Kinder

Wie wichtig diese unmittelbare Naturerfahrung für die Entwicklung der Kinder ist, belegten zwei Erziehungswissenschaftler der Hochschule Ludwigsburg in ihrem Buch „Startkapital Natur“ (Oekom Verlag). Nach Auswertung von 150 internationalen Studien zum Thema Naturerfahrung bei Kindern kommen die Wissenschaftler zu einem klaren Ergebnis: Das Spielen im Wald, auf Wiesen und an Bächen fördert die motorischen Fähigkeiten, das Sprachvermögen, das Selbstbewusstsein und die soziale Kompetenz.

Doch eine im Februar vorgestellte Studie des TNS-Emnid-Instituts, die von der Deutschen Wildtierstiftung in Auftrag gegeben worden war, dokumentiert die erschreckenden Naturferne von Kindern zwischen vier und zwölf Jahren in Deutschland. Danach sind 49 Prozent der Kinder noch nie selbstständig auf einen Baum geklettert. Das Toben, Spielen und Entdecken in der Natur ist nicht mehr die Regel, es ist die Ausnahme im Leben der von Terminstress, Leistungsdruck und Medienfaszination getriebenen Kindern.

Wenn Kinder den Drang verspüren, einen Wald unsicher zu machen, dann gibt es einen weiteren Hinderungsgrund. „Die neue Ängstlichkeit der Eltern“, sagt Michael Miersch, Geschäftsführer des Forums Bildung Natur, dem Bildungszweig der Deutschen Wildtier Stiftung. Die Mehrheit der Eltern empfindet das freie, unbeaufsichtigte Spiel im Wald als Gefahr. In der Studie wurde 1003 Eltern folgende Frage vorgelegt: „Eine Mutter erlaubt ihrem zehnjährigen Sohn, mit einem Freund im Wald zu spielen. Die Mutter des Freundes ist dagegen. Sie findet, das ginge nur, wenn ein Erwachsener auf die Kinder aufpasst. Wer hat Ihrer Meinung nach Recht?“ 53 Prozent der Befragten stimmten der ängstlichen Mutter zu.

Eltern älterer Kinder sollen draußen bleiben

In der Wilden Welt im Stadtpark sollen die Eltern draußen bleiben. zumindest, wenn ihre Kinder sechs Jahre oder älter sind. Zur Naturerfahrung zählt eben auch, mal von einer Dorne am Brombeerstrauch gestochen zu werden, vom Kletterbaum zu plumpsen oder beim Durchstreifen des Wäldchens von einem Ast gepiekst zu werden. Lebenserfahrung und Selbstbewusstsein gewinnt das Kind in diesem Moment, wenn Mama oder Papa nicht gleich bei Fuß stehen, um zu trösten.

Ganz der Willkür der Natur und der Eigenverantwortung der Kinder und Eltern wird die Wilde Welt allerdings nicht überlassen. „Sie wird von uns so intensiv kontrolliert, wie kein anderer Bereich im Park“, sagt Stadtpark-Chef Kai Jörg Evers. Grobe Gefahrenstellen würden entschärft.

Umgesetzt wurde die Wilde Welt vom Förderverein des Stadtparks, der dafür unter anderem die Einnahmen aus dem gemeinsam mit dem Hamburger Abendblatt produzierten Stadtpark-Kalender 2015 verwendete. Ein großer Teil der Kosten wurde mit einer Spende in Höhe von 15.000 Euro von der Sparda-Bank Norderstedt beglichen. „Draußen spielen, ohne dass die Eltern wussten, wo man gerade war – ich kenne das aus meiner Kindheit nicht anders“, sagt Thomas Witte, Vorsitzender des Fördervereins. Die Wilde Welt soll den Norderstedter Kindern den Raum geben, um das auch erleben zu können. „Was gibt es Schöneres, als wenn Kinder am Ende des Tages nach Hause kommen und die Spuren des Matschlochs an der Kleidung haben?“

Eine Erfahrung, die die Eltern der Grundschüler aus Glashütte am Donnerstagabend machen durften. Doch neben den Spuren des Matschlochs brachten die Kinder vor allem eines nach Hause: Erlebnisse. Der Fund eines Schneckenhauses, die Sichtung eines kleinen Frosches, der Bau einer Ast-Brücke über die Matschepampe und die Entdeckung des geheimen Weges durchs Strauch-Dickicht.