Reinhard Geistert fuhr per Fahrrad 3451 Kilometer von der eigenen Haustür in Norderstedt bis nach Avignon in Südfrankreich. 30 Tage war der 62-Jährige unterwegs, ehe ihn eine Panne kurz vor dem geplanten Ziel stoppte.
Norderstedt. Vor dem inneren Auge von Reinhard Geistert geht die Fahrt immer noch weiter, wenn er sich zurückerinnert. Aus Norderstedt hinaus nach Westen, über Niedersachsen in die Niederlande, ins belgische Westflandern mit dem mittelalterlichen Antlitz von Brügge. Bis zum Ziel aller Träume – Frankreich, die „Grande Nation“, mit ihren Küsten, Bergen, endlosen Landschaften. „Ich hatte den ganzen Tag über Kino, es waren so viele Eindrücke, die ich erlebt habe“, sagt Geistert.
Ein normaler Tourist war er allerdings nie. Der 62 Jahre alte Harksheider, Kriminalpolizist im Ruhestand, hatte sich für einen Kraftakt entschieden. Vor der eigenen Haustür setzte er sich auf sein Fahrrad und startete ein 3451 Kilometer langes Abenteuer. „Einfach alleine loszufahren, mit grenzenloser Zeit, ich kann links oder rechts fahren, das ist toll. Um das zu verwirklichen, habe ich mir extra ein neues Trekkingrad gekauft“, so Reinhard Geistert.
Von sich selbst wusste er, dass die eigene körperliche Konstitution durchaus eine strapaziöse, eigene „Tour de France“ zulassen würde – Geistert war schon immer unternehmensfreudig, hatte sein Rad schon in den USA oder in Asien dabei. Eine derartige lange Reise hatte er indes noch nie angetreten. „Ich wusste aber schon, was ich mir zutrauen kann.“ 200 Kilometer täglich, das würde er schaffen, sagte er sich zuvor.
Die Route steckte er ab, ohne alles allzu detailliert zu planen. Geistert wollte in den französischen Küstenregionen bleiben, dann hinter Bordeaux ins Inland, vorbei an Toulouse, später durch das Vallée du Rhône wieder gen Norden. „Nur die Alpen wollte ich umgehen.“ Und auch auf Paris verzichtete Reinhard Geistert bewusst. Wie lange all das dauern würde, konnte er nur beziffern. „Man kann das nicht immer abschätzen, wie viele Kilometer man pro Tag mit dem ganzen Gepäck tatsächlich fahren kann.“
Einige Zeit hatte er gegrübelt, welches Equipment überlebensnotwendig sein würde, was lediglich optional sei und worauf er verzichten könnte. Schließlich belud er sein Fahrrad mit rund 35 Kilogramm. Elementar wichtig dabei: ein voluminöser Wasserkanister direkt am Lenker. „Es gab Tage, da waren es nahe an die 40 Grad in der Sonne. Da habe ich sieben Liter getrunken.“ Klassisch war die Form der Orientierung. Kein „Google Maps“ auf dem Smartphone, und das intelligente Navigationssystem erwies sich rasch als hinderlich, lotste Reinhard Geistert anfangs mehrfach in die Irre. „Das Navi war wirklich nicht das Wahre. Ich habe mich dann eher an den Landkarten orientiert.“ Wobei er auch hier Abstriche machen musste. „Ich kann ja nicht für jede Region eine Karte dabei haben.“ Zumal sich herausstellte, dass Frankreich ein fahrradfreundliches Land ist. „Da gibt es teilweise tolle Radwege. Dort trifft man auch viele Radler, mit denen man sich austauschen kann. Die Hilfsbereitschaft der Leute ist toll.“
Sein Französisch ist zwar nicht perfekt, genügte aber, um sich problemlos auch in den verschiedenen Départements mit ihren gewöhnungsbedürftigen Dialekten zu verständigen. Dort fuhr Reinhard Geistert von Hostel zu Hostel, buchte in der Regel eher kurzfristig seine Zimmer im Voraus via Internet, stornierte die Unterkünfte jedoch auch, wenn er sich für einen anderen Etappenverlauf entschied. „Manchmal bin ich einfach danach gegangen, wo die Hostels waren. Sonst wäre es zu teuer gewesen. Ich war froh, für 40 Euro eine Übernachtung zu bekommen.“
Zumal auch sein Fahrrad und die Ausrüstung neben dem Bett Platz haben mussten. „Das wollte ich ungern alles draußen stehen lassen.“ Grundsätzlich habe er spartanisch gelebt. „Unter 15 Euro gibt es in Frankreich kein Abendessen.“ Also musste er manchmal auch mit Dosennudeln, aufgewärmt mit dem Campingkocher, vorlieb nehmen. „Zur Mittagszeit war kein Mensch auf der Straße, da sind die Läden zu.“
Seine Beobachtungen, Gedanken zur Reise und auch alle finanziellen Ausgaben notierte er in einem Fahrtenbuch. So etwa, dass er sich wunderte, in Maromme am Ortseingang keinerlei Verweis auf die Partnerschaft mit Norderstedt zu entdecken. „In La Rochelle dachte ich: Hier hat wohl jeder Einwohner ein eigenes Boot.“
Als Geistert im bretonischen Saint-Malo vorbeikam und die weltberühmten Festungsanlagen am Atlantik, das Fort National, anschauen wollte, war er baff – nie zuvor hatte er so viele Radfahrer auf einem Fleck gesehen; viele hundert müssen es gewesen sein. „Und ich war mittendrin.“
Heikel war dafür der eine oder andere „Clinch“ mit anderen Verkehrsteilnehmern. Fast auf Tuchfühlung kam er oftmals, wenn ihn ein Lkw überholte. Tückisch seien zudem die Klickpedale. „Wenn man da nicht rechtzeitig den Fuß rausbekommt, fällt man einfach um.“ Das passierte ihm sogar bereits am ersten Reisetag, als er vor einer Baustelle stoppen musste.
Ein wenig Glück hatte Reinhard Geistert als Brillenträger, dass er drei Sehhilfen eingepackt hatte. „Ohne Brille wäre ich absolut hilflos. Ich habe es tatsächlich geschafft, zwei davon kaputt zu bekommen.“
Die Kraftanstrengung bemerkte er erstmals am achten Tag. „Das Fahrverhalten mit dem Gepäck ist anders, das konnte ich nicht trainieren. Mir taten dann die Arme schon ziemlich weh.“ Auch vor Überraschungen war er nicht gefeit. „Da biegt man einmal an der Seine falsch nach rechts ab, und hat dann plötzlich eine Steigung von zehn Prozent. Da können drei Kilometer sehr lang werden. Auch die Windrichtung macht einen enormen Unterschied aus. Entweder Mistral oder Schirokko, verlassen konnte man sich nicht darauf.“
Aber, so Reinhard Geistert, „ich kann beißen“. Erst recht, wenn die Highlights der Tour ihn entschädigen. So wie die endlosen Radwege entlang der südfranzösischen Wasserstraßen wie dem Canal de Garonne oder dem Canal du Midi in den Regionen Aquitanien und Midi-Pyrénées.
Im Prinzip lief alles wie erträumt. Bis zur Endphase der Rundfahrt. Denn in Avignon, drei Tage vor dem geplanten Ziel, streikte das zuvor so verlässliche Material. Der Gepäckträger zerbrach, das Schutzblech lag nun direkt auf dem Hinterrad. „Ich habe dann einen Kanadier getroffen, der noch versucht hat, alles mit Kabelbinder zu fixieren.“ Vergebens. „Eigentlich wollte ich noch weiter, dann mit dem TGV nach Mülhausen fahren und weiter nach Freiburg.“ So aber setzte er sich in einen Fernbus und beendete den Trip nach 30 Tagen vorzeitig. Und nahm es gelassen, schließlich war die Panne erst spät und glücklicherweise nicht fernab jeder Zivilisation geschehen. „Meine Horrorvorstellung war: Es wird dunkel, ich muss schieben und die Nacht im Freien verbringen.“
Wieder in Norderstedt angekommen, begann übrigens sofort die Fleißarbeit. 2500 Fotos mussten sortiert, ausgewertet und schließlich sorgfältig zu einem Buch zusammengestellt werden. „Ich kann ganz schön nerven, weil ich immer wieder zum Fotografieren anhalte“, so Reinhard Geistert. Auch deshalb war es von Vorteil, allein unterwegs gewesen zu sein. „Da hatte ich meine Freiheit.“